Gunther Schnabl, Senior Advisor beim Flossbach von Storch - Research Institute, sieht Hinweise für eine dauerhaft erhöhte Euro-Inflation.
Nachdem die Zentralbanken in der globalen Finanzkrise und der Coronakrise durch den umfangreichen Ankauf von Wertpapieren (Quantitative Lockerung) die Finanzsektoren mit Liquidität geflutet hatten, entziehen sie nun diese Liquidität langsam wieder. Sie bauen den Bestand von Wertpapieren in ihren Bilanzen ab (Quantitative Straffung). Im Gegensatz zur Quantitativen Lockerung geht die Straffung allerdings langsamer voran, so dass die Auswirkung auf die langfristigen Zinsen bisher gering ist.
Die englische Tageszeitung Financial Times hat jüngst die Quantitative Straffung als „Geldpolitik in Friedenszeiten“ bezeichnet, die jederzeit unterbrochen werden könne, wenn es Probleme gibt. Im besten Fall könnten die Zentralbanken ihre Bilanzen verkürzen, ohne dass es zu Turbulenzen auf den Finanzmärkten kommt. Könnte das auch für die Europäische Zentralbank (EZB) gelten?
Nachdem seit Mitte 2021 die Inflation deutlich angestiegen war, hat die EZB mit deutlichen Zinserhöhungen signalisiert, dass sie entschlossen die Inflation bekämpfen werde. Hingegen hat sie die starke Ausweitung ihrer Bilanz seit Ausbruch der europäischen Finanz- und Schuldenkrise nur bei den langfristigen Krediten an die Geschäftsbanken, kaum aber bei den Wertpapierankaufprogrammen APP und PEPP zurückgenommen.
Der Bestand des Anleihekaufprogramms APP ist bisher nur langsam geschrumpft, von 3.265 Milliarden Euro im Juni 2023 auf knapp rund 3.000 Milliarden Euro. Der Bestand der Anleihen aus dem Pandemischen Notfallankaufprogramm (auf der Spitze im Juni 2022 waren es 1.700 Milliarden Euro) soll noch bis Mitte dieses Jahres konstant bleiben.
Die bisherige geldpolitische Straffung hat also weitgehend am kurzfristigen Ende der Zinsstrukturkurve stattgefunden. Die Zinsen sind daher bei kurzen Laufzeiten hoher als bei langen – die Zinsstrukturkurve fällt also im Euroland derzeit ab, statt anzusteigen.
Da die Inflation inzwischen wieder deutlich gesunken ist, pausiert die EZB mit den Leitzinserhöhungen seit September 2023. Führende EZB-Vertreter denken sogar über Zinssenkungen im Sommer nach. Hingegen will die Zentralbank die Quantitative Straffung – also das Verkürzen der EZB-Bilanz durch das Auslaufenlassen oder den Verkauf von Wertpapieren – weiter fortsetzen beziehungsweise sogar forcieren.
Das erinnert an die „Operation Twist“ der US-amerikanischen Zentralbank Fed, die in den Jahren 2008 und 2009 kurzfristige US-Staatsanleihen verkaufte und langfristige US-Staatsanleihen kaufte, um durch ein Absenken der langfristigen Zinsen die Konjunktur zu beleben. Während die Fed damals eine aufsteigende Zinsstrukturkurve flacher machte, scheint die EZB die derzeit absteigende Zinsstrukturkurve flacher oder sogar aufsteigend machen zu wollen. Warum?
Eine aufsteigende Zinsstrukturkurve könnte die Banken im Euroraum stabilisieren, weil die kurzfristigen Finanzierungskosten sinken, während die Zinsen im langfristigen Neugeschäft als wichtige Einkommensquelle steigen. Andererseits würden steigende langfristige Zinsen die ohnehin schwache Nachfrage nach Unternehmens- und Immobilienkrediten weiter dämpfen.
Würden durch hohe Zinsen die Immobilienpreise weiter gedrückt, dann könnten aufgrund des fallenden Wertes der Sicherheiten mögliche Kreditausfälle die Banken destabilisieren. Steigende Zinsen auf Staatsanleihen könnten hoch verschuldete Eurostaaten wie Griechenland und Italien in Bedrängnis bringen, sodass die EZB wieder gezwungen sein könnte, mit erneuten Ankäufen von Staatsanleihen den Euro zu retten.
Das spricht dafür, dass die angedeuteten Leitzinssenkungen auch erneute Ankäufe von Wertpapieren durch die EZB, also auch Zinssenkungen am langen Ende der Zinsstrukturkurve signalisieren, selbst wenn derzeit noch das Gegenteil angekündigt ist. Wenn das der Fall wäre, dann dürfte es aus vier Gründen einen neuen Schub bei der Inflation geben:
Erstens gibt es noch sehr viel Überschussliquidität im Bankensystem. Die Einlagen der Geschäftsbanken bei der EZB beziehungsweise bei den Zentralbanken des Eurosystems liegen noch deutlich über den notwendigen Mindestreserven. Würde die Überschussliquidität nicht weiter konsequent reduziert, sondern wieder erhöht, dann würden die langfristigen Zinsen wieder sinken und das Kreditvolumen wieder schnell wachsen. Zusätzliche Investitionen und mehr Konsum würden die Inflation wieder nach oben treiben.
Zweitens würde ein neues Ausgabenpotenzial für die Eurostaaten geschaffen, das nicht nur über eine zusätzliche Staatsnachfrage den Inflationsdruck wieder anheizen würde. Eine weiterhin hohe Nachfrage der Eurostaaten auf dem Arbeitsmarkt würden den aktuellen Arbeitskräftemangel weiter verstärken und die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften hochhalten.
Die Inflation würde dann, drittens, über weiter stark wachsende Lohnstückkosten hochgehalten, weil sich die aktuelle Lohn-Preis-Spirale weiterdrehen würde.
Viertens würde der Verfall der Immobilienpreise eingedämmt, der derzeit einen deflationären Druck im Euroraum verursacht.
Die EZB könnte mit dem Anvisieren von Leitzinssenkungen also andeuten, dass sie mit ihrer Strategie der geldpolitischen Straffung bereits an Grenzen gestoßen ist, obwohl die Kerninflation mit 3,1 Prozent im Februar 2024 immer noch deutlich über dem Zwei-Prozent-Ziel der EZB liegt.
Schon allein die bisher erfolgten Zinserhöhungen am kurzen Ende der Zinsstrukturkurve haben in Deutschland eine Krise am Immobiliensektor eingeleitet, die mit einer sehr schwachen Konjunktur einhergeht. Aufgrund der hohen Einlagen der Geschäftsbanken beim Eurosystem haben die EZB und die Deutsche Bundesbank schmerzliche Verluste erlitten.
Damit die Quantitative Straffung keine Unruhe auf den Finanzmärkten erzeugt, könnte sich deshalb die EZB im Verlauf des Jahres 2024 dafür entscheiden, dauerhaft mehr als zwei Prozent Inflation zuzulassen. Auch die jüngste Ankündigung der EZB, im Rahmen ihrer neuen Strategie wieder Anleihen zu kaufen, deutet darauf hin.
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