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Gesellschaft
7 Minuten

Lose Versprechen

- Julian Marx

In der Europäischen Union (EU) werden die Maastricht-Kriterien von mehreren Staaten nicht eingehalten – und das schon seit vielen Jahren. Neue Haushaltsregeln sollen für Besserung sorgen.

Die Maastricht-Kriterien, die vor mehr als 30 Jahren beschlossen wurden, sind eigentlich unmissverständlich. Nach diesen Vorgaben sollte die maximale jährliche Neuverschuldung der EU-Staaten drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht überschreiten. Zudem wurde eine Staatsschuldenquote von höchstens 60 Prozent des BIP vorgesehen. Doch geholfen haben die Zielvorgaben oftmals nicht. Immer wieder haben Euroländer die Regeln gebrochen.

So blieb Frankreichs Haushaltsdefizit zwischen 1995 und 2023 in nur sieben Jahren unterhalb der Drei-Prozent-Grenze. Portugals Regierungen beendeten erstmals im Jahr 2007 ein Haushaltsjahr mit einem Defizit, das (knapp) unterhalb der Marke von drei Prozent blieb. Auch verfügen mit Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien, Portugal und Spanien sechs EU-Mitgliedsstaaten, die zusammen für mehr als 40 Prozent der EU-Wirtschaftsleistung stehen, inzwischen über eine Staatsschuldenquote, die sogar 100 Prozent des BIP übersteigt.

Die Fiskaldisziplin von zahlreichen EU-Mitgliedsstaaten wurde in der Vergangenheit also äußerst lax gehandhabt. In der Corona-Krise wurden die Regeln sogar bis Ende 2023 ausgesetzt und heftig über die Sinnhaftigkeit der Regeln debattiert. Daher wurde vor einiger Zeit ein neuer Anlauf gestartet.

Die neuen Regeln im Check

Im Februar war es dann so weit. Valdis Dombrovskis, Exekutiv-Vizepräsident der Europäischen Kommission, begrüßte die politische Einigung über einen neuen EU-Rahmen, den das Europäische Parlament im April billigte. Nach seiner Ansicht werden die Vorschriften die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen verbessern und ein nachhaltiges Wachstum fördern. Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre bleibt die Frage: Ist dieser Optimismus gerechtfertigt?

Auf den ersten Blick bleiben wesentliche Eckpfeiler unverändert und die Maastricht-Kriterien von der bevorstehenden Reform unberührt. Dabei sind beide Grenzen inhaltlich umstritten. Mehrfach wurde moniert, dass es für diese Regeln keine wissenschaftliche Fundierung gibt. Was sich durch den neuen EU-Rahmen ändern soll, ist einzig der Weg, wie die Einhaltung von Schuldenstands- und Defizit-Grenze künftig gewährleistet werden soll.

1. Stärkere nationale Verantwortung und Anpassungsphasen

Zukünftig soll es eine mehrjährige „Anpassungsphase“ geben, in dem der Schuldenstand eines stark verschuldeten Mitgliedsstaats durch geeignete Maßnahmen auf einen nachhaltigen Abwärtspfad gebracht werden soll. Dabei kann eine üblicherweise vierjährige Anpassungsphase aus jedem Grund, den der Rat der EU für angemessen hält, um drei Jahre verlängert werden.

Weitere Faktoren sollen ebenfalls für mehr Flexibilität sorgen. So soll die nationale Eigenverantwortung gestärkt werden, indem den Mitgliedsstaaten bei der Festlegung ihrer eigenen haushaltspolitischen Anpassungspfade und bei ihren Reform- und Investitionszusagen ein größerer Spielraum eingeräumt wird. In diesem Zusammenhang haben Mitgliedstaaten auch die Möglichkeit, die Einreichung eines überarbeiteten nationalen Plans zu beantragen, wenn objektive Umstände dessen Umsetzung verhindern – beispielsweise bei einem Regierungswechsel.

Diese Vorgaben erscheinen, zumindest nach unserer Einschätzung, problematisch. Ein möglicher Kritikpunkt lautet, dass ein Regierungswechsel eine Überarbeitung des nationalen Plans nach sich ziehen kann – für sich genommen erscheint dieser Aspekt zunächst nachvollziehbar. Allerdings ist im Fall einer bis zu siebenjährigen Anpassungsphase äußerst fraglich, wie viele Regierungen eine solche Anpassungsphase überhaupt von Anfang bis Ende begleiten können. Im Ergebnis könnten die vereinbarten Pfade einer ungewollt hohen Dynamik unterliegen. Kontinuität und Planungssicherheit bringt das nicht. Zudem können (zu) große Spielräume der Mitgliedsstaaten dem Wunsch nach mehr Haushaltsdisziplin sogar entgegenwirken: Einerseits darf grundsätzlich angezweifelt werden, ob Staaten, die sich bislang schon über viele Jahre nicht an die Maastricht-Kriterien gehalten haben, angesichts eines höheren Grades an Eigenverantwortung zu mehr Kostendisziplin animiert werden können. Andererseits bleibt von Fall zu Fall zu ergründen, inwiefern etwaige mehrjährige Planungen und Prognosen, die den Anpassungspfaden zugrunde gelegt werden, valide sind.

Denn wie das Beispiel Griechenland zeigt, haben mehrjährige Wirtschaftsprognosen ihre Tücken und sind mitunter sehr unsicher. So hat die Europäische Kommission das Wirtschaftswachstum Griechenlands von 2014 bis 2019 in ihren jeweiligen Herbstgutachten jährlich vorab geschätzt. In Summe lag die tatsächliche Wirtschaftsleistung dann aber um mehr als zehn Prozentpunkte niedriger. Dabei stand die Corona-Pandemie, die einen unerwarteten Wirtschaftseinbruch historischen Ausmaßes bereithielt, erst noch bevor.

2. Die Umsetzungsregeln sollen einfacher werden

Die geplanten mehrjährigen Anpassungspfade sollen überwacht werden. Die konkrete Umsetzung sieht vor, dass sich die haushaltspolitische Überwachung dabei auf einen einzigen operativen Indikator stützen soll – auf die Nettoprimärausgaben – also jene Staatsausgaben, die insbesondere die zu leistenden Zinsausgaben des Staates ausklammern. Doch die Beurteilung der haushaltspolitischen Lage eines Mitgliedsstaates darauf zu reduzieren, ist problematisch, wie der Bundesrechnungshof bereits im vergangenen Jahr kritisierte.

Warum, zeigt das Beispiel Italien: Zwischen 2000 und 2019 erwirtschafteten Italiens Regierungen in 18 von 20 Jahren einen Primärüberschuss (Haushaltssaldo vor Zinsausgaben). Der Primärüberschuss fiel mit durchschnittlich 1,4 Prozent des BIP sogar recht üppig aus. Nach Berücksichtigung der Zinsausgaben standen hingegen ausschließliche Haushaltsdefizite zu Buche, die im Schnitt rund drei Prozent des BIP betrugen. Eine Vereinfachung der haushaltspolitischen Überwachung auf einen Indikator, der die hochrelevanten Zinskosten ausklammert, wird somit einer ganzheitlichen Betrachtung der Staatsfinanzen wohl kaum gerecht.

3. Berichtspflichten und Defizitverfahren sollen bei der Durchsetzung helfen

Was bringen aber Regeln, wenn sich keiner an sie hält? Das ist die entscheidende Frage, die sich die Europäische Kommission stellen muss, nachdem die Maastricht-Kriterien in der Vergangenheit wenig Bindungswirkung entfaltet haben. Nach vorne schauend sollen zwei Maßnahmen helfen, die Regeln besser durchzusetzen. Zum einen sind die betroffenen Mitgliedsstaaten angehalten, fortan einen alljährlichen Bericht über ihre Fortschritte bei der Erfüllung der gemachten Zusagen vorzulegen. Zum anderen wird die Kommission ein „Kontrollkonto“ einrichten, um Abweichungen vom vereinbarten haushaltspolitischen Pfad zu erfassen. Überschreitet der Saldo des Kontrollkontos eine numerische Schwelle und liegt der Schuldenstand des Mitgliedsstaats bei über 60 Prozent des BIP, so erstellt die Kommission einen Bericht, in dem geprüft wird, ob ein Defizitverfahren eingeleitet werden sollte. Im Extremfall kann ein solches Defizitverfahren in einer Strafzahlung münden.

Der Versuch zur Disziplinierung mittels Defizitverfahren ist nicht neu. Doch bisher fehlte immer der politische Wille, es anzuwenden und Strafzahlungen durchzusetzen, um die Einhaltung der Maastricht-Kriterien einzufordern. Warum sollte sich das in Zukunft ändern?

Zumal der Kommission bei der Beurteilung, ob ein übermäßiges Defizit vorliegt, großzügige Freiheiten eingeräumt werden. Beispielsweise können staatliche Investitionen bei der Beurteilung positiv berücksichtigt werden: So werden alle nationalen Ausgaben für die Kofinanzierung von EU-finanzierten Programmen von der Ausgabenberechnung einer Regierung ausgeschlossen, was mehr Anreize für Investitionen schaffen soll. Verbessert sich also die haushaltspolitische Lage aus den „richtigen“ Gründen nicht, weil etwa in die Verteidigung und Militärhilfen oder in den Ausbau erneuerbarer Energien investiert wurde, kann die Kommission trotz eines zu hohen Defizits beide Augen zudrücken.

Zudem kann ein Defizitverfahren politisch bedrohlich sein. Wie würden etwa finanzielle Sanktionen auf ein chronisch defizitäres Frankreich wirken, das im Jahr 2022 mit rund zehn Milliarden Euro der zweitgrößte Nettozahler unter den Mitgliedsstaaten war. EU-Kritiker in Frankreich hätten ein gefundenes Fressen, wenn eine Institution, die französische Steuerzahler entscheidend mitfinanzieren, Strafzahlungen gegen ebendiese Steuerzahler verhängen. Auch dies ist und bleibt ein Dilemma.

Erschwerende Belastungen für eine Konsolidierung

Das jüngst veröffentlichte Rahmenwerk zu den neuen EU-Haushaltsregeln wirft also viele Fragen auf. Nach vorne schauend kommt erschwerend hinzu, dass die finanziellen Belastungen der Staaten eher zu- als abnehmen dürften, was eine Konsolidierung der Staatsfinanzen erschwert.

Große Teile der EU-Mitgliedsstaaten müssen perspektivisch mit teils deutlich steigenden demografischen Lasten rechnen: In Deutschland wird die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter (15 bis 64 Jahre) bis 2035 um schätzungsweise rund zehn Prozent schrumpfen. In Italien könnte der Rückgang sogar 13 Prozent betragen. Steigende Sozialausgaben in Form deutlich anziehender Rentenleistungen könnten also auf einen sich verschärfenden Fachkräftemangel treffen. Zudem hat der Ukrainekrieg die Sicherheitsarchitektur in Europa infrage gestellt und dürfte nachhaltig höhere Ausgaben erfordern. So wird auch die Nato-Zielmarke, die jährliche Verteidigungsausgaben in Höhe von zwei Prozent des BIP vorsieht, mittlerweile als weitaus verbindlicher wahrgenommen als noch vor einigen Jahren.

Neuer EU-Rahmen kein großer Wurf

Die Bemühungen der EU, die Fiskalregeln zu überarbeiten und glaubhaft durchzusetzen, sind damit zwar grundsätzlich lobenswert. Denn gerade in Zeiten gestiegener Zinsen schränken hohe Staatsschulden die finanzielle Handlungsfähigkeit der Fiskalpolitik wieder stärker ein. Doch diese Chance scheint vertan.

Denn die neuen Haushaltsregeln sind nicht der große Wurf. Erhebliche Ermessensspielräume nähren Zweifel an einer nachhaltigen und glaubwürdigen Einhaltung der Maastricht-Kriterien. In Kombination mit den erwartbaren, steigenden Belastungen könnten die Drei-Prozent-Defizit-Grenze und die angestrebte Schuldenquote von 60 Prozent des BIP auch zukünftig nur lose Versprechen bleiben.

Wie geht es also weiter? Die gewünschte Konsolidierung der Staatsfinanzen bleibt in jedem Fall höchst unsicher. Unklar bleibt, inwiefern tatsächlich Reformanreize geschaffen werden und eine Priorisierung der Staatsausgaben gelingen kann. Bleiben die Maastricht-Kriterien nur lose Versprechen, werden die Zentralbanken den hoch verschuldeten Staaten wohl langfristig als Sparringspartner zur Seite stehen (müssen). Nur sie sind in der Lage, die Schuldentragfähigkeit der Mitgliedsstaaten durch tiefe Realzinsen sicherzustellen – trotz riesiger Schuldenberge.

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