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Kein Universalrezept

- Julian Marx

Die Inflationsraten sind gesunken. Kommen jetzt kräftige Zinssenkungen? Eine Analyse von drei Währungsräumen zeigt: Ganz so einfach ist es nicht.

Noch vor gut zwei Jahren haben vermutlich die wenigsten Beobachter für möglich gehalten, dass teils zweistellige Inflationsraten binnen weniger Jahre zurückgeführt werden können, ohne zeitgleich deutlich sichtbare Kollateralschäden in der Wirtschaft zu verursachen. Doch genau dieses Szenario scheint weiter möglich.

Während die Kerninflationsraten, die die volatilen Energie- und Lebensmittelpreise ausklammern, in der Eurozone und den USA (gemessen am PCE-Preisindex) bereits auf weniger als drei Prozent gesunken sind und damit nur noch leicht oberhalb des Zwei-Prozent-Inflationsziels liegen, deutet nach wie vor wenig auf eine spürbare Rezession in beiden Währungsräumen hin. In Kanada gilt das Inflationsziel sogar als erreicht, was auch daran liegt, dass Kanada auf ein Zielband von ein bis drei Prozent setzt.

Ein Blick auf die geldpolitischen Rahmenbedingungen dies- und jenseits des Atlantiks.

Kanada: Der Druck auf die Eigenheimbesitzer wächst

Kanada ist im jüngsten Zinssenkungszyklus eine Art Vorreiter. Seit Juni kommt die Bank of Canada auf vier Zinssenkungen im Umfang von 1,25 Prozentpunkten, womit die Leitzinsen zuletzt auf 3,75 Prozent gesunken sind.

Dabei war es aus Sicht der kanadischen Notenbanker auch nebensächlich, dass die Kerninflation in Kanada noch leicht oberhalb der Zwei-Prozent-Marke lag, die zahlreiche Zentralbanken anstreben. Einerseits, weil man sich in Kanada nicht an einer „punktgenauen“ Steuerung der Inflationsraten versucht. Vielmehr gibt es ein Inflationszielband von ein bis drei Prozent, das den zahlreichen Unwägbarkeiten bei der Inflationsmessung Rechnung trägt. Andererseits, weil der mittelfristige Ausblick nennenswerte Abwärtsrisiken für Wirtschaft und Inflation bereithält, sodass bereits weitere Zinssenkungen in Aussicht gestellt wurden.

Ein Grund, der Kanadas Notenbanker über weitere Zinssenkungen nachdenken lässt, liegt weit in der Vergangenheit. Die Rede ist vom „Interest Act“ – ein Gesetz aus den 1880er Jahren, das bis heute in Kraft ist und den Hypothekenmarkt in Kanada noch immer prägt. Es besagt, dass ein Kreditnehmer, der eine Hypothek mit einer Laufzeit von mehr als fünf Jahren aufnimmt, das Recht hat, den Kredit nach fünf Jahren vollständig zurückzuzahlen, wobei eine Strafe von maximal drei Monatszinsen fällig wird.

Damit gehen kanadische Banken bei langlaufenden Immobilienkrediten das Risiko einer geringen Vorfälligkeitsentschädigung ein; womit die tatsächlichen Zinseinnahmen bei langlaufenden Immobilienkrediten nur schwer zu kalkulieren sind. Dieses Risiko lassen sich kanadische Banken im Gegenzug durch deutlich höhere Zinsen bei langlaufenden Hauskrediten vergüten.

Das Ergebnis: Kanadas Hypothekenmarkt besteht überwiegend aus fünfjährigen Immobilienkrediten. Im April 2021 beispielsweise waren in Kanada zehnjährige Hypotheken mit einem Zinssatz von 3,14 Prozent verfügbar, während fünfjährige Hypotheken bei 2,29 Prozent lagen. Etwa 80.000 Kreditnehmer entschieden sich in diesem Monat für den Fünfjahreszinssatz, während nur 400 Kreditnehmer die Zehnjahreslaufzeit wählten.

In diesem Zusammenhang wurde in Kanada zuletzt viel über die sogenannte „mortgage renewal wall“ (zu Deutsch: „Hypothekenverlängerungsmauer“) gesprochen. Mehr als vier Millionen Hypothekenkredite – oder etwa 60 Prozent aller ausstehenden Hypothekenkredite – werden in den nächsten zwei Jahren verlängert. Ein großer Teil davon wurde seit dem Beginn des Zinsanstiegs im Jahr 2022 nicht verlängert. Und selbst nach den jüngsten Zinssenkungen werden die meisten dieser Kreditnehmer wahrscheinlich mit einer deutlichen Erhöhung ihrer Zinszahlungen konfrontiert sein.

Eine Belastung, die sich spürbar negativ auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage auswirken kann und somit auch ein Abwärtsrisiko für die kanadische Inflation darstellt. Insofern ist es plausibel anzunehmen, dass Kanadas Notenbanker Wort halten und bei einem ansonsten unveränderten Ausblick weitere Zinssenkungen anstreben werden.

USA: Der Inflationsschreck lässt nach

In den USA sind die zinsseitigen Auswirkungen auf bestehende Hypothekenkredite weitaus weniger relevant. Das ist insofern nicht überraschend, als dass US-Haushalte beim Hauskauf überwiegend auf Immobilienkredite mit 30-jähriger Zinsbindung zurückgreifen und zudem die Möglichkeit hatten, diese in den Pandemiejahren zu Tiefzinskonditionen zu verlängern.

So profitierten zum Ende des ersten Halbjahres 2024 noch immer knapp 29 Millionen US-Haushalte von Hauskreditzinsen, die weniger als vier Prozent betragen. Im Schnitt aller US-Haushalte mit einer Hypothek lag der zu leistende Zinssatz jüngst dann auch weiterhin bei moderaten 4,1 Prozent und damit rund einen Prozentpunkt niedriger als zehn Jahre zuvor. Bei Neuabschluss eines 30-jährigen Hauskredites wurden in den USA in den vergangenen Monaten hingegen sechs bis sieben Prozent fällig.

Von daher spielen die bestehenden Hauskredite bei den US-Notenbankern derzeit nicht die dominante Rolle, die sie bei ihren kanadischen Kollegen innehaben. Aber was sind dann die Treiber, die US-Notenbankpräsident Jerome Powell aktuell beschäftigen?

Auf der einen Seite sind es die Entwicklungen am US-Arbeitsmarkt – das ergibt sich bereits aus dem dualen Mandat der US-Notenbank Federal Reserve (Fed), in dem das Vollbeschäftigungsziel ein fester Bestandteil ist. Vor diesem Hintergrund ist zunächst einmal positiv zu bewerten, dass sich der US-Arbeitsmarkt weiter robust darstellt.

Im Sommer aufkeimende Sorgen, dass sich die Lage am Arbeitsmarkt – und mit ihr die Wachstumsaussichten – rapide verschlechtern, haben sich bislang nicht materialisiert. Die US-Arbeitslosenquote pendelte sich nach einem Anstieg auf 4,3 Prozent im Juli 2024 in den Folgemonate bei tiefen vier Prozent ein. Damit dies auch so bleibt, soll der zinsseitige Gegenwind bestmöglich weiter abnehmen. Zuletzt beschloss die Fed die zweite Zinssenkung in Folge und reduzierte die Leitzinsen in die neue Bandbreite von 4,5 bis 4,75 Prozent.

Wie weit die Zinssenkungen in den kommenden Quartalen gehen können, hängt aber auch von der weiteren Inflationsentwicklung ab. Es gibt mehrere Aspekte, die in diesem Zusammenhang zuversichtlich stimmen. So hat sich nach Angaben der Fed die Verfügbarkeit von Arbeitskräften sukzessive verbessert, was für eine weitere Abkühlung der Lohninflation spricht. Zuletzt stiegen die durchschnittlichen Stundenlöhne in den USA um rund vier Prozent, und sind nach geldpolitischen Maßstäben weiterhin leicht erhöht.

Nach Ansicht der Fed ist ein Lohnwachstum in der Bandbreite von 3 bis 3,5 Prozent mit dem bestehenden Inflationsziel vereinbar. Abseits der Entwicklungen am Arbeitsmarkt wirkt positiv, dass sich der anhaltende Druck auf die Wohnraumpreise in den kommenden Monaten weiter normalisieren sollte. Während die Wohnkosten im dritten Quartal 2024 um rund fünf Prozent zulegten, lag die Teuerungsrate bei den (vorlaufenden) Neuvermietungen bei lediglich einem Prozent.

Es bleibt zwar weiter ein hohes Maß an (Inflations-)Unsicherheit – etwa mit Blick auf den kommenden US-Präsidenten, der mit breit angelegten Steuersenkungen für neuerlichen Aufwärtsdruck bei den Teuerungsraten sorgen könnte. Gleichwohl bereitet das Inflationsgespenst den US-Notenbankern im gegenwärtigen Zustand keine schlaflosen Nächte mehr.

Eurozone: Wenig Wachstum, weiter Weg

Von möglichen Aufwärtsrisiken für die Inflation ist man in der Eurozone gefühlt deutlich weiter entfernt als in den USA. Kein Wunder. Erweist sich die gesamtwirtschaftliche Nachfrage hierzulande weiter als äußerst mau. Die jüngsten Projektionen des Internationalen Währungsfonds (IWF) gehen für dieses Jahr auch lediglich von einem Realwachstum von 0,8 Prozent in der Eurozone aus, was sich im kommenden Jahr nur schleppend auf 1,2 Prozent beschleunigen könnte. Für die USA zeigt sich der IWF mit Schätzungen von 2,8 beziehungsweise 2,2 Prozent für dieses und das kommende Jahr hingegen deutlich optimistischer.

Während die eingetrübten Wachstumsaussichten in der Eurozone auf eine weitere Abschwächung des Inflationsdrucks hindeuten, bleiben dennoch einige Unbekannte für den weiteren Zinspfad. Zum einen lag die Dienstleistungsinflation im Oktober 2024 mit 3,9 Prozent weiterhin auf deutlich erhöhten Niveaus – der zugrundeliegende Inflationsdruck ist bislang also noch keineswegs vollständig abgeebbt.

Nach mittlerweile drei Zinssenkungen besteht zudem eine weitere Sorge. So wurde in der jüngsten Sitzung des EZB-Rats argumentiert, dass die Geldpolitik selbst zu einem Faktor werden könne, der das Tempo beim Disinflationsprozess verlangsame, je weiter sich die Zinssätze dem „neutralen Bereich“ nähern.

Fazit: Es gibt kein Universalrezept

Ob in der Eurozone, in Kanada oder in den USA. In zahlreichen Volkswirtschaften befinden sich die Inflationsraten nach historischen Höchstständen auf dem Rückzug. Hinsichtlich der geldpolitischen Instrumente erfolgt die Behandlung der Teuerungsraten dabei nach einem stets ähnlichen Muster. Im Mittelpunkt steht die Höhe der Leitzinsen.

Abseits der geldpolitischen Werkzeuge und der Tatsache, dass die Inflationsraten vieler Länder in den vergangenen Jahren einen weitgehenden Gleichlauf erfahren haben, zeigt sich jedoch eine erstaunliche Vielfalt. Im Grunde genommen ist jeder Währungsraum einzigartig.

Kanadas Haushalte sind angesichts kurzlaufender Hauskredite in der Regel deutlich schneller von Zinsänderungen betroffen als US-Haushalte. In der Eurozone spricht eine schwächere Wachstumsdynamik tendenziell für eine deutlichere Abschwächung der Lohninflationsdynamik als in den USA. Zahlreiche weitere Unterschiede existieren; beispielsweise mit Blick auf demografische Entwicklungen, die in den kommenden zehn Jahren auf ein spürbar sinkendes Arbeitskräfteangebot in der Eurozone hindeuten, während es in den USA leicht zulegen dürfte.

Die Komplexität jedes einzelnen Währungsraums bedingt aus geldpolitischer Sicht daher eine tiefgründige Analyse der jeweiligen Rahmenbedingungen. Und weil sich die Inflationstreiber in den einzelnen Währungsräumen mitunter signifikant unterscheiden, ist eine Erkenntnis fast schon selbstredend: Ein Universalrezept für die „richtige“ Geldpolitik kann es nicht geben.

(Foto: Katharina Kammermann auf Unsplash)

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