Wie erwartet hat die EZB die Leitzinsen um 25 Basispunkte gesenkt. Nach zehn Zinserhöhungen ist dies die erste Zinssenkung seit fünf Jahren – ein „historischer“ Schritt. Eine Einordnung.
Die heutige Zinssenkung der Europäischen Zentralbank (EZB) war mehrfach angekündigt worden, auch von Christine Lagarde, der Notenbank-Präsidentin. Selbst Frankreichs Notenbankchef Francois Villeroy de Galhau sprach vorab sogar gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters von einem „done deal“- also einer Entscheidung, an der nicht mehr zu rütteln sei. Und so liegen die Zinssätze für die Einlagefazilität und die Hauptrefinanzierungsgeschäfte in der Eurozone fortan bei 3,75 beziehungsweise bei 4,25 Prozent.
Dabei lag die Teuerungsrate im Mai in der Eurozone bei durchschnittlich 2,6 Prozent. Auch die Kerninflation hielt sich mit 2,9 Prozent weiter unverändert spürbar oberhalb des Zwei-Prozent-Inflationsziels der Notenbank. Die Lohninflation verzeichnete im ersten Quartal 2024 mit 4,7 Prozent sogar einen Höchststand in diesem Jahrtausend.
Kann man also die zurückliegenden Erfolge im Kampf gegen zeitweise zweistellige Inflationsraten ohne Weiteres fortzuschreiben? Zunächst bleibt unklar, ob die aktuellen Daten zur Lohninflation als Vorboten einer anhaltend hohen Inflation zu interpretieren sind oder ob es sich hierbei um einmalige Nachholeffekte nach den erheblichen Reallohnverlusten in den vergangenen Jahren handelt.
Jüngste Unternehmensumfragen deuten zumindest auf eine Abschwächung der Lohninflationsdynamik hin - und dürften ein wesentlicher Baustein in den Inflationsprojektionen der EZB-Mitarbeiter sein. Diese gehen unverändert davon aus, dass das Inflationsziel im Laufe des kommenden Jahres erreicht wird, und haben ihre Inflationserwartungen leicht nach oben gezogen. In den gerade veröffentlichten Schätzungen rechnen sie mit einer Inflation von 2,2 Prozent im Jahr 2025. Für das Jahr 2026 prognostizieren sie mit einer Teuerung von 1,9 Prozent einen Wert leicht unterhalb des Notenbankziels.
Wenngleich die Inflationsprognosen zuversichtlich stimmen können, sind sie mit einem hohen Maß an Unsicherheit behaftet. Das wissen wohl auch die Ratsmitglieder der EZB nur zu gut, nachdem die Inflationsprojektionen der EZB den hochschnellenden Inflationsraten im Jahr 2022 hinterherliefen. Insofern bestimmt der heutige Zinsschritt den zukünftigen geldpolitischen Pfad auch nicht. Er ist also (noch) nicht mit einer erwartbaren Abfolge mehrerer Zinssenkungen gleichzusetzen.
Und dass der heutige Zinsschritt nicht unmittelbar mit der Aussicht auf weitere Zinssenkungen verbunden sein muss, ist dabei positiv zu werten, denn das zeigt, dass die EZB hinzugelernt hat. So war die Kommunikationspolitik lange Zeit vor allem von der „Forward Guidance“ geprägt, also davon, Interessierten regelmäßig eine Maßgabe für die künftige Geldpolitik an die Hand zu geben. Im Jahr 2022 hat diese Kommunikationspolitik die EZB offenbar sogar an früheren Zinserhöhungen gehindert.
Das hat sich inzwischen geändert. Noch im Januar sagte EZB-Chefvolkswirt Philip Lane in einem Interview mit der italienischen Tageszeitung „Corriere della Sera“, dass sich einer ersten Zinssenkung sehr wahrscheinlich eine Reihe von weiteren Zinssenkungen anschließen würde. Doch mittlerweile agiert die EZB datenabhängig.
Daher wird nicht einfach, wie früher, an einmal getätigten Aussagen um jeden Preis festgehalten. Nun sind vielmehr Anpassungen in der geldpolitischen Ausrichtung an eine Veränderung der Datenlage geknüpft. In diesem Zusammenhang haben Philip Lane, Isabel Schnabel & Co. in den vergangenen Wochen wichtige Kommunikationsarbeit für die Vorbereitung des heutigen Zinsschritts geleistet.
Nachdem die Zinssenkung recht frühzeitig in Aussicht gestellt worden war, wurde sie zuletzt unmissverständlich eingeordnet, um einer Extrapolation der heutigen Senkung an den Finanzmärkten vorzubeugen. Aussagen wie „Der Weg zurück zur Preisstabilität ist holprig […]“, „Wir beobachten das genau und sollten uns genügend Zeit lassen“ oder „Ich möchte davor warnen, in zu schnellen Schritten voranzugehen“ deuten auf eine künftige, behutsame geldpolitische Vorgehensweise hin.
Welchen Wert hat die heutige Zinssenkung also, wenn sich nicht zwingend unmittelbare und spürbare Zinssenkungen anschließen müssen? Denn hinsichtlich der realwirtschaftlichen Bedingungen ändert sich zunächst einmal wenig. Beispielsweise wurden neu vergebene Unternehmenskredite in der Eurozone jüngst mit gut fünf Prozent verzinst. Das ist deutlich mehr als vor zwei Jahren, als sie mit weniger als zwei Prozent verzinst wurden, und auch mehr als die vier Prozent Durchschnittszins, die bestehende Unternehmenskredite aktuell aufweisen. Hinzu kommt, dass die reale Zinsbelastung angesichts rückläufiger Inflationsraten in den vergangenen zwölf Monaten spürbar zugenommen hat.
Für sich genommen ändert die heutige Zinssenkung zunächst einmal auch wenig an der geldpolitischen Ausrichtung. Ohnehin stellte Lane jüngst klar, dass sich in den kommenden Quartalen weniger die Frage stellt, ob die Geldpolitik noch restriktiv sein muss, sondern vielmehr, wie restriktiv sie angesichts der bereits erzielten Erfolge noch sein muss.
Aus unserer Sicht ist daher die relevante Erkenntnis der heutigen Zinsentscheidung vor allem darin zu sehen, dass die EZB aus den Fehlern ihrer Vergangenheit gelernt hat. Dass die „Datenabhängigkeit“ künftig im Vordergrund des geldpolitischen Vorgehens steht, ist vermutlich keine leere Phrase, sondern gelebte Geldpolitik. Aus Sicht der Geldpolitik hat dies den Vorteil, dass Zielkonflikte wie im Jahr 2022, als die EZB sich einer zuvor gegebenen „Forward Guidance“ verpflichtet fühlte und Zinsanhebungen aufgeschoben hat, unwahrscheinlicher geworden sind.
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