Die Europäische Zentralbank (EZB) besitzt Anleihen im Wert von mehreren Billionen Euro – und agiert bei den Käufen äußerst intransparent.
3,6 Billionen Euro. So hoch war der Bestand an Staatsanleihen, den das Eurosystem Ende 2021 zu geldpolitischen Zwecken hielt. Erworben wurden die Staatspapiere fast ausschließlich seit März 2015, als die Europäische Zentralbank (EZB) mit breit angelegten Staatsanleihekäufen im Rahmen des „Public Sector Purchase Programme“ (PSPP) startete.
Der Schuldenanstieg der Eurostaaten lag im gleichen Zeitraum allerdings bei „nur“ 2,3 Billionen Euro. Im Ergebnis hat das Eurosystem in der jüngeren Vergangenheit also mehr Staatsanleihen aufgekauft als neue Papiere emittiert wurden – und das in Zeiten pandemiebedingter Rekorddefizite. Unweigerlich drängt sich der Eindruck auf, dass das Eurosystem die Ausgaben der Mitgliedstaaten finanziert. Überschreitet die EZB also ihre Kompetenzen und betreibt womöglich monetäre Staatsfinanzierung?
Aus rechtlicher Sicht ist das Programm zwar umstritten. So stellte das Bundesverfassungsgericht im Frühjahr 2020 fest, dass Bundesregierung und Bundestag die zur Einführung und Durchführung des PSPP erlassenen Beschlüsse hätten prüfen und darlegen müssen, inwieweit sie verhältnismäßig seien. Einen Verstoß gegen den Grundsatz der monetären Staatsfinanzierung stellte aber weder das deutsche Höchstgericht noch der Europäische Gerichtshof fest, der sich 2018 mehrmals mit der Geldpolitik befasst und bislang wohlwollend geäußert hat.
Tatsächlich sind der EZB Staatsanleihekäufe am Sekundärmarkt nicht explizit verboten. Auch über deren zulässigen Umfang gibt es keine näheren Vorschriften. Artikel 123 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) besagt lediglich, dass der EZB der unmittelbare Erwerb von Staatsanleihen, also der Kauf von Staatsanleihen bei deren Emission , verboten ist.
Gleichwohl lässt sich aber darüber streiten, ob diese Auslegung im Sinne der einstigen Gesetzgeber wäre. Denn mit Blick auf die monetäre Staatsfinanzierung, von der es ausdrücklich im Absatz 1 des Artikel 123 heißt, dass sie unterbunden werden soll, macht es zunächst keinen Unterschied, ob die Zentralbank die Staatsanleihen direkt bei Emission oder später kauft. In beiden Fällen nimmt die Zentralbank Staatsanleihen vom Markt, kassiert die Zinszahlungen und schüttet diese in Form von Gewinnausschüttungen wieder an die Staaten aus.
Ob die EZB aber tatsächlich eine Form der monetären Staatsfinanzierung betreibt, wäre dann das Resultat einer wertenden Gesamtbetrachtung von Aspekten wie: Ist das Volumen der Ankäufe im Voraus begrenzt? Werden Ankäufe nach dem Kapitalschlüssel der nationalen Zentralbanken getätigt? Werden erworbene Schuldtitel dem Markt wieder zugeführt, wenn eine Fortsetzung der geldpolitischen Intervention nicht länger erforderlich ist, um das Inflationsziel zu erreichen?
Fakt ist jedoch, dass das Eurosystem binnen weniger Jahre zum größten Gläubiger der Eurostaaten aufgestiegen ist. Nach unseren Schätzungen hielt das Eurosystem Ende 2021 stolze 26 Prozent der ausstehenden Staatsschulden der Mitgliedstaaten (vgl. Grafik). Wie viele Schulden muss das Eurosystem noch erwerben, um von Staatsfinanzierung sprechen zu können?
Die EZB müsste eigentlich eine intrinsische Motivation verspüren, dem Narrativ der monetären Staatsfinanzierung entgegenzuwirken und Zahlen offenzulegen. Umso irritierender erscheint in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die EZB-Käufe nicht transparent ausgewiesen werden. So können Außenstehende nur darüber spekulieren, in welchem Umfang die EZB tatsächlich deutsche Bundesanleihen erworben hat.
Die Grafik (oben) musste bei mehreren Quellen recherchiert werden. Weder werden die Käufe des Eurosystems nach Bundes-, Länder- und sonstigen Anleihen öffentlicher Institutionen aufgegliedert, noch ist klar, zu welchem Preis die Wertpapiere bezogen wurden (beispielsweise kann es in Einzelfällen sein, dass eine langlaufende Bundesanleihe 40 oder 50 Prozent oberhalb des Nennwerts gekauft wurde).
Nach vorne schauend dürften sich die Transparenzstandards bei den EZB-Käufen aber nicht verbessern. Im Gegenteil: Das bei der jüngsten Zinserhöhung der EZB neu eingeführte „Transmission Protection Instrument“ (TPI), mit dem wiederum Staatsanleihen angekauft werden können, lässt die EZB noch weiter in den Graubereich ihres Mandats vordringen.
Gelangt die EZB beispielsweise zur (subjektiven) Einschätzung, dass etwa die Renditen für Staatsanleihen in der Euro-Peripherie zu hoch liegen und damit den geldpolitischen Transmissionsmechanismus, also die Weitergabe der geldpolitischen Impulse, stören könnten, dann kann die EZB zukünftig nach eigenem Ermessen Staatsanleihen der Euro-Peripherie kaufen.
Die Käufe im Rahmen des TPI sind dabei weder von vornherein begrenzt noch findet wie bisher eine Orientierung am Kapitalschlüssel der nationalen Zentralbanken statt. Was dann am Ende in welchem Umfang und zu welchem Preis gekauft wurde, bleibt vermutlich das Geheimnis der EZB.
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