Skip to Content
Märkte
6 Minuten

Die Mühlen mahlen langsam

- Julian Marx

Bereits vor drei Jahren bemängelten Experten, dass die maßgeblichen Teuerungsraten in der Eurozone keine Preisentwicklungen für selbstgenutztes Wohneigentum berücksichtigen. Getan hat sich nichts.

Am 23. Januar 2020 eingeleitet, wurden bei der Strategieüberprüfung der Europäischen Zentralbank (EZB) in verschiedenen Arbeitsgruppen auch Bürgerinnen und Bürgern in mehreren Ländern befragt. 18 Monate später lagen die Ergebnisse vor. Im Juli 2021 war das.

Bei dieser Überprüfung galt es, die Rahmenbedingungen der Geldpolitik neu abzustecken und bei Bedarf Anpassungen am Werkzeugkasten der EZB vorzunehmen. Die letzte vorangegangene Strategieüberprüfung lag zu diesem Zeitpunkt bereits 18 Jahre zurück. 18 Jahre, in denen die Wirtschaft des Euroraums wie auch die Weltwirtschaft tiefgreifende strukturelle Veränderungen durchliefen, und in denen die Geldpolitik, etwa mit billionenschweren Wertpapierkäufen der Notenbank, neue Wege beschritten hatte.

Und da es die Hauptaufgabe der EZB ist, für Preisstabilität zu sorgen, war es eine wesentliche Erkenntnis, dass dabei der Harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI) als geeignete Messgröße zur Bewertung des Preisstabilitätsziels bestätigt wurde.

Doch die Inflationsmessung und -berechnung, wie sie heutzutage erfolgt, ist keineswegs perfekt. Das gilt für den HVPI ebenso wie für andere wichtige Preisindizes. Daher gab es bei dieser Bestätigung, vor nunmehr mehr als drei Jahren, eine wichtige Einschränkung – an der sich bis heute nichts verbessert hat.

Berechnung ohne die Kosten für selbstgenutztes Wohneigentum

So ist es das Ziel der Notenbank, für Preisstabilität zu sorgen. Daher beschäftigte sich eine Arbeitsgruppe mit dem wichtigen Bereich der Inflationsmessung. In Gesprächen mit Experten vor Ort berichteten 2020 „viele Menschen in Europa, dass ihnen die steigenden Kosten für selbstgenutztes Wohneigentum Sorgen bereiten“. So ist es im Ergebnisbericht nachzulesen: „Doch diese Kosten spiegelten sich nicht in unserer Inflationsmessgröße wider“. Damals waren die Preise von Wohnimmobilien in vielen Euro-Ländern bereits seit einiger Zeit gestiegen, bei gleichzeitig geringer Inflation.

In allen gängigen Indikatoren zur Messung von Inflation gibt es Schwächen. So werden im deutschen HVPI im Gegensatz zum deutschen Verbraucherpreisindex (VPI) die Konsumausgaben der privaten Haushalte für Glücksspiel sowie der Rundfunkbeitrag nicht berücksichtigt. Doch weder Glücksspiel noch Rundfunkbeitrag spielen eine dominante Rolle im idealtypischen Warenkorb der Bundesbürger. Insofern sind die inflationsseitigen Implikationen einer (Nicht-)Berücksichtigung dieser Komponenten überschaubar und somit zu vernachlässigen.

Für andere Komponenten gilt diese Aussage hingegen nicht. Wie aus Umfragen im Rahmen der Strategieüberprüfung hervorging, sah es die Öffentlichkeit als einen Mangel der Preismessung im Euroraum an, dass die Wohnkosten unzureichend berücksichtigt werden. Während die Wohnkosten für selbstgenutztes Wohneigentum im HVPI bislang überhaupt nicht berücksichtigt werden, fließen sie im deutschen VPI mit einem Indexgewicht von gut 10 Prozent ein. Diesen Mangel hat daher auch der EZB-Rat vor mehr als drei Jahren eingeräumt. Doch Abhilfe gestaltet sich als schwierig.

Der Nutzerkostenansatz

Es gibt zwar verschiedene Ansätze, um die Kosten für selbstgenutztes Wohneigentum in der Inflationsmessung zu berücksichtigen. Sie haben aber alle Schwächen.

In Kanada und Schweden setzt man beispielsweise auf den „Nutzerkostenansatz“. Dabei wird versucht, die tatsächlichen Unterhaltskosten, also die Kapitalkosten und die Kosten für die Abnutzung, zu erfassen.

Eine wesentliche Schwierigkeit dieser Methode besteht jedoch darin, dass zahlreiche Informationen nicht direkt oder nur unter erheblichem Aufwand beobachtet werden können. Daher müssen beispielsweise Annahmen für den Abnutzungsgrad oder die Dauer des Eigentums getroffen werden.

Der Mietäquivalenzansatz

In Japan und den USA setzen die Statistikämter auf den „Mietäquivalenzansatz“. Dabei werden die Wohnkosten der Haushalte in Eigenheimen indirekt gemessen, indem die Entwicklung der Mieten für vergleichbare Objekte betrachtet wird.

Ein Problem bei dieser Methode besteht darin, dass sie schwer anzuwenden ist, wenn es keinen funktionierenden Mietmarkt für Einfamilienhäuser gibt. Das ist beispielsweise in Schweden der Fall, wo das Genossenschaftsprinzip weit verbreitet ist. Und selbst wenn es einen Markt gäbe, ist das Mietobjekt nicht unbedingt mit dem Eigentumsobjekt vergleichbar.

Der Nettoerwerbsansatz

Eine dritte Möglichkeit, die Wohnkosten für selbstgenutztes Wohneigentum zu messen, ist der sogenannte Nettoerwerbsansatz, der etwa in Australien Anwendung findet und dessen Verwendung auch für die Eurozone angestrebt wird.

Dabei werden die Kosten für das Leben in einem Eigenheim anhand der Preisentwicklung für neu gebaute Häuser gemessen. Der Vorteil des Nettoerwerbsansatzes besteht darin, dass der Transaktionspreis die Veränderungen bei den Kosten für Baumaterialien, Arbeitskräfte und die Gewinnspanne der Bauunternehmen widerspiegelt.

Eine Herausforderung bei diesem Ansatz ist es aber, den Wert des Gebäudes und des Grundstücks zu trennen, weil das Grundstück als Vermögenswert betrachtet wird und somit über den Umfang der Konsumausgaben hinausgeht.

Alle Methoden haben Vor- und Nachteile

Und so lässt sich zusammenfassen, dass jede der vorgenannten Messmethoden mit Vor- aber auch mit Nachteilen verbunden ist. Aus Sicht der Eurozone kommt erschwerend hinzu, dass sich die Charakteristika der jeweiligen Wohnungsmärkte in den Euroländern deutlich unterscheiden.

Deutschland verfügt beispielsweise über einen sehr großen Mietmarkt. Etwas mehr als jeder zweite Haushalt wohnt zur Miete. Insofern würde es sich aus deutscher Sicht anbieten, die Wohnkosten für selbstgenutztes Wohneigentum nach dem „Mietäquivalenzansatz“ zu messen.

In Italien oder Spanien liegt hingegen die Wohneigentumsquote bei mehr als 70 Prozent. Entsprechend kleiner ist der Mietmarkt und es bietet sich eher an, den Verkaufspreis von Wohnungen und Häusern heranzuziehen, um herauszufinden, wie sich die Preise für selbst genutztes Wohneigentum entwickeln.

Offenes Ende

Diese Herausforderungen haben dazu beigetragen, dass die EZB auch drei Jahre nach ihrer Strategieüberprüfung noch immer keinen abschließenden Lösungsansatz präsentieren konnte. Wie aus dem jüngsten Monatsbericht der Bundesbank hervorgeht, ist wohl offenbar auch nicht mit einer zeitnahen Lösung zu rechnen, da es keinen Konsens unter den europäischen Statistikämtern gebe, wie die Kosten für selbstgenutztes Wohneigentum im HVPI zu behandeln sind. Selbst eine vierteljährliche Veröffentlichung experimenteller Daten ließ sich nicht umsetzen.

Die Statistikämter konnten sich lediglich darauf verständigen, weitere Forschung auf diesem Gebiet anzustoßen. Ein Gebiet, das eigentlich nicht neu ist und in zahlreichen anderen Währungsräumen schon lange in der Inflationsberechnung Berücksichtigung findet.

Bei allen Herausforderungen ist der immer noch fehlende, konkrete Plan für die schrittweise Einbeziehung der Wohnkosten für selbstgenutztes Eigentum ernüchternd – immerhin sind bereits drei Jahre verstrichen. Schließlich handelt es sich hierbei um einen der gewichtigsten Ausgabenpunkte der Haushalte. Doch die Mühlen bei den europäischen Statistikämtern mahlen offensichtlich sehr langsam.

Das könnte Sie auch interessieren

Glossar

Verschiedene Fachbegriffe aus der Welt der Finanzen finden Sie in unserem Glossar erklärt.

Die neuste Ausgabe der Position

„Innovation oder Revolution?“

Das Thema Künstliche Intelligenz (KI) ist in aller Munde, auch (oder besser: insbesondere) an der Börse. Aktien, die als die großen KI-Profiteure gelten, haben ein Hoch nach dem anderen erklommen, bevor so manche von ihnen Anfang August korrigierten. Was bedeutet das langfristig für Anlegerinnen und Anleger?

RECHTLICHER HINWEIS

Diese Veröffentlichung dient unter anderem als Werbemitteilung.

Die in dieser Veröffentlichung enthaltenen Informationen und zum Ausdruck gebrachten Meinungen geben die Einschätzungen von Flossbach von Storch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wieder und können sich jederzeit ohne vorherige Ankündigung ändern. Angaben zu in die Zukunft gerichteten Aussagen spiegeln die Zukunftserwartung von Flossbach von Storch wider, können aber erheblich von den tatsächlichen Entwicklungen und Ergebnissen abweichen. Für die Richtigkeit und Vollständigkeit kann keine Gewähr übernommen werden. Der Wert jedes Investments kann sinken oder steigen und Sie erhalten möglicherweise nicht den investierten Geldbetrag zurück.

Mit dieser Veröffentlichung wird kein Angebot zum Verkauf, Kauf oder zur Zeichnung von Wertpapieren oder sonstigen Titeln unterbreitet. Die enthaltenen Informationen und Einschätzungen stellen keine Anlageberatung oder sonstige Empfehlung dar. Sie ersetzen unter anderem keine individuelle Anlageberatung.

Diese Veröffentlichung unterliegt urheber-, marken- und gewerblichen Schutzrechten. Eine Vervielfältigung, Verbreitung, Bereithaltung zum Abruf oder Online-Zugänglichmachung (Übernahme in andere Webseite) der Veröffentlichung ganz oder teilweise, in veränderter oder unveränderter Form ist nur nach vorheriger schriftlicher Zustimmung von Flossbach von Storch zulässig.

Angaben zu historischen Wertentwicklungen sind kein Indikator für zukünftige Wertentwicklungen.

© 2024 Flossbach von Storch. Alle Rechte vorbehalten.

Back to top