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Gefährliche Scheingenauigkeit

- Julian Marx

Der enorme Anstieg der Verbraucherpreise ist allgegenwärtig, aber sehr schwer zu messen. Trotzdem versucht die Geldpolitik, die Inflation punktgenau zu steuern. Das ist riskant.

Im Jahr 2002 wurde das Euro-Bargeld eingeführt. Seither trägt die Gemeinschaftswährung hierzulande den Spitznamen „Teuro“. Dabei lag die Verbraucherpreisinflation in Deutschland seither über viele Jahre bei weniger als zwei Prozent. So richtig teuer wurde es nach der Euro-Einführung erst im vergangenen Jahr. Und dies hatte wenig mit der Bargeldumstellung von der Deutschen Mark auf den Euro zu tun.

Erstmals erleben viele von uns nun über einen längeren Zeitraum Inflationsraten, die den Spitznamen „Teuro“ rechtfertigen könnten. Egal ob beim Bäcker, an der Supermarktkasse oder beim Lieblingsitaliener: nirgendwo können sich Verbraucherinnen und Verbraucher den gestiegenen Lebenshaltungskosten entziehen. Doch wie hoch war die Inflation in Deutschland im Jahr 2022 überhaupt? Was sagt die Statistik?

Kein eindeutiger Wert

Sie nennt gleich drei Werte. So wird die Verbraucherpreisinflation in Deutschland im vergangenen Jahr mit …

  • 6,9 Prozent,
  • 7,9 Prozent oder
  • 8,7 Prozent

beziffert. Und alle drei können gut begründet sein. So mancher mag sich hier die Augen reiben. Wie kann denn sowas sein?

Bei Antwort a), also einer Inflationsrate von 6,9 Prozent, handelt es sich um die vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Inflationsraten des nationalen Verbraucherpreisindex. Antwort b) zeigt dieselbe Zahl – allerdings liegt hier noch ein „alter“ Warenkorb zugrunde, der turnusmäßig alle fünf Jahre überarbeitet wird und zuletzt im Februar 2023 rückwirkend angepasst wurde. Und Antwort c) ist die Inflationsrate für Deutschland gemäß dem harmonisierten Verbraucherpreisindex von Eurostat, dem Statistikamt der Europäischen Union. Letzterer hat zum Ziel, eine höhere Vergleichbarkeit der Inflationsraten zwischen den EU-Staaten zu gewährleisten.

Jeder dieser drei genannten Inflationsraten liegt ein (leicht) abweichender Warenkorb zugrunde. Anders formuliert: Für den einen Warenkorb ist die Entwicklung von Wohnkosten relevanter, für den anderen die von Kraftstoffen. Entsprechend wirkt sich die (identische) Preisentwicklung einzelner Güter und Dienstleistungen unterschiedlich stark auf die jeweiligen Preisindizes aus.

Kleine Anpassung, große Wirkung

Wie stark dabei selbst kleinere Modifikationen des Warenkorbs wirken können, zeigt die jüngste Überarbeitung des nationalen Verbraucherpreisindex des Statistischen Bundesamts vom vergangenen Februar. Danach war die Verbraucherpreisinflation in Deutschland für das vergangene Jahr um einen Prozentpunkt niedriger als vor den Anpassungen. Für die einzelnen Monate fielen die Differenzen aufgrund dieser Anpassungen (Revisionen) mal stärker, mal schwächer aus (vgl. Grafik unten).

 

Abbildung 1 (Quelle: Refinitiv, Flossbach von Storch, Daten per 31. März 2023)
Abbildung 1 (Quelle: Refinitiv, Flossbach von Storch, Daten per 31. März 2023)

 

In erster Linie ist das auf ein verändertes „Wägungsschema“ zurückzuführen, also auf eine neue Gewichtung innerhalb des idealtypischen Warenkorbs. So schlägt etwa Gas im „neuen Warenkorb“ nur noch mit einem Anteil von 1,13 Prozent zu Buche - nach 2,48 Prozent im „alten Warenkorb“. Allein diese vermeintlich geringfügige Veränderung schlägt erheblich auf die neuberechnete Verbraucherpreisinflation durch.

Denn beim Gas wurden im vergangenen Jahr Inflationsraten von bis zu 82,8 Prozent (im November) erreicht. Wendet man diesen Preisanstieg von 82,8 Prozent auf ein Gewicht von 2,48 Prozent an, hätte der Gaspreisanstieg im November vergangenen Jahres 2,05 Prozentpunkte (82,8 Prozent*2,48 Prozent) zur Gesamtinflation beigetragen. Mit dem neuen Gewicht sind es nur noch 0,94 Prozentpunkte, also mehr als ein Prozentpunkt weniger.

Das zeigt, dass Inflationsmessung heikel ist. Letztlich gibt es die eine (wahre) Inflationsrate gar nicht. Streng genommen hat jedes Individuum eine eigene, ganz persönliche Inflationsrate, die vom jeweils individuellen Ausgabenverhalten abhängt. Gleichwohl sind die von den Statistikämtern berichteten Inflationsraten wertvoll. Sie vermitteln ein sehr gutes Bild darüber, wie hoch die Teuerung in der Gesamtschau ausfällt. So können Unternehmen die berichtete Inflation als Referenzpunkt für ihre eigene Preissetzung heranziehen. Für die Geldpolitik sind die berichteten Inflationsraten sogar existenziell.

Ein eindeutiges Inflationsziel

Denn das Mandat der Europäischen Zentralbank (EZB) ist klar formuliert. „Das vorrangige Ziel […] ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten“, heißt es im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (EU). Die Notenbanker der EZB haben dieses Ziel der Preisstabilität für sich nun so formuliert, dass sie mittelfristig eine Inflationsrate von zwei Prozent gegenüber Vorjahr anstreben. Dieses Inflationsziel ist leicht verständlich und hat sich über die Jahre relativ fest in den Köpfen der Menschen verankert – bestimmt also auf lange Sicht die Inflationserwartung, so eine Argumentation der Notenbanken. 

Doch wie oben gezeigt, ist die Inflationsmessung überaus komplex und kleine Anpassungen in der Inflationsberechnung können signifikante Auswirkungen auf das Ergebnis haben. In Zeiten hoher Inflation mögen die Messungenauigkeiten weitgehend egal sein. Auch derzeit ist es nicht entscheidend, ob die Inflation nun bei sechs, sieben oder acht Prozent liegt. Sie ist in jedem Fall zu hoch und erfordert ein entschlossenes Eingreifen der Geldpolitik.

In ruhigeren Zeiten besteht jedoch bei einem eindeutigen Inflationsziel und einer ungenauen Messbarkeit das Risiko, dass der Fokus auf eine Zwei-Prozent-Punktlandung in die Irre führen kann.

Bandbreite als Notenbankziel

So rechtfertigten die Euro-Währungshüter noch Ende 2017, als die Eurozonen-Inflation bei 1,5 Prozent lag, umfangreiche Wertpapierkäufe der Notenbank mit dem angestrebten Inflationsziel. Dabei belief sich schon damals die Summe der anno 2015 initiierten Wertpapierkäufe auf mehr als zwei Billionen Euro. Und mit dieser Begründung wurden die Käufe ab 2018 mit einem Tempo von 30 Milliarden Euro pro Monat fortgesetzt.

Mit Blick auf die Geldpolitik bleibt es daher äußerst diskussionswürdig, wie stark sich eine geldpolitische Ausrichtung auf die Nachkommastelle einer berichteten (und erst recht einer projizierten) Inflationszahl stützen sollte. Die angestrebte Zwei-Prozent-Punktlandung wird der Scheingenauigkeit einer Inflationszahl jedenfalls kaum gerecht.

Wäre es daher nicht besser, eine Bandbreite, von beispielsweise 0,5 bis 2,5 Prozent, als Inflationsziel der Notenbanken auszugeben, in der das Mandat der Preisstabilität als erfüllt angesehen wird? Immerhin sind ein Prozent Inflation doch noch preisstabiler als zwei Prozent Inflation, da die Kaufkraft des Geldes dann weniger stark entwertet wird. Unter einer solchen Mandatsauslegung wäre die EZB-Politik nach der Eurokrise vermutlich deutlich weniger expansiv ausgefallen

 

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