Durch Wirtschaftssanktionen läßt sich Verteidigungs- und Sicherheitspolitik nicht ersetzen. Das zeigt sich nicht zuletzt an der politischen Unwirksamkeit jener Sanktionen, die gegen Russland wegen der Annektierung der ukrainischen Halbinsel Krim im Februar 2014 erlassen worden sind.1 Die Wirtschaftssanktionen, die von den USA und der EU seit dem 6. März 2014 gegen Russland verhängt und acht Jahre lang immer wieder verlängert wurden, hatten die politischen Ziele,
Keines dieser Ziele wurde auch nur ansatzweise erreicht, im Gegenteil: Die Illusion, man könne Verteidigungs- und Sicherheitspolitik durch Wirtschaftssanktionen substituieren, hat sogar mit dazu beigetragen, daß Waldimir Waldimirowitsch Putin seit dem 24. Februar 2022 einen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine führt.
Wirtschaftssanktionen wirken zwar in dem Sinne, daß sie wirtschaftliche Schäden erzeugen, - politisch und militärisch abschreckend wirken sie jedoch nur sehr selten.2 Wirtschaftssanktionen können weder militärische Abschreckung vor Kriegen und schon gar nicht militärische Verteidigung im Kriegsfall ersetzen.
Eine ganz andere Frage ist indes, ob im Falle eines Krieges wirtschaftliche Kooperation mit dem Feind aufrechterhalten werden kann und inwieweit die militärischen Fähigkeiten des Feindes durch Entzug ökonomischer Mittel und Kooperationsmöglichkeiten geschwächt werden können, so daß das Erfolgspotential der eigenen militärischen Verteidigung steigt. Es geht um den Wirtschaftskrieg im Krieg. Und es geht insbesondere um den Kampf gegen die feindliche Kriegswirtschaft im bewaffneten Konflikt.3
Durch militärische und zivile Mittel wird im Kriegsfall alles angegriffen, was zur feindlichen Kriegswirtschaft gehört: Handelsverbindungen, Auslandsvermögen, Rohstoffzufuhr, Industrieanlagen, Verkehrsnetze, Arbeitsbevölkerung, Finanzwesen usw.4
Als Reaktion auf Putins Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine haben die USA, die EU, Japan und viele andere westliche Staaten und selbst die Schweiz umfangreiche Sanktionen verhängt, die sich zum einen auf Personen der russischen politischen Führung und deren oligarchisches Umfeld beziehen und die zum anderen viele Bereiche der russischen Wirtschaft und insbesondere das Finanzwesen treffen sollen.
Bei diesen Sanktionen handelt es sich erstens um nicht-militärische, zivile Mittel, weil die westlichen Staaten völkerrechtlich nicht von sich aus zur Kriegspartei werden wollen, was sie politisch aber zweifellos sind.
Zweitens zielen die westlichen Sanktionen nicht ausschließlich auf die russische Kriegswirtschaft und damit die Schwächung des militärischen Potentials von Russland, sondern auch auf einen Regimewechsel in Moskau qua ökonomischer Beschädigung der russischen Volkswirtschaft und dem Zusammenbruch des russischen Bankensystems sowie auf die Bestrafung von Putins Regime und seines oligarchischen Umfeldes.
Im besonderen Fokus stehen seit Wochen Forderungen nach einem umfassenden Energieembargo von Kohle, Öl und Gas aus Russland, da dieses am effektivsten die Finanzierung des russischen Staates und der russischen Volkswirtschaft treffen wurde und wohl auch das Interessengeflecht zerstören könnte, auf welches das Regime Putin errichtet ist. Zudem könnten die vielen Sanktionslücken bezüglich SWIFT und russischen Banken bei einem umfassenden Energieembargo geschlossen werden, die derzeit offengehalten werden müssen, um die Energielieferungen aus Russland bezahlen zu können.
Die EU hat zwar in ihrem fünften Sanktionspaket ein Kohleembargo beschlossen, das nach einer Übergangsfrist von 120 Tagen, also im August, in Kraft tritt. Es gibt in der EU bislang aber keinen Termin für ein Ölembargo. Und ein Gasembargo verhindern derzeit Deutschland, Österreich, Ungarn und Italien. In Deutschland wird von der Bundesregierung als Argument gegen ein sofortiges Gasembargo angeführt, daß man sich nicht selbst mehr schädigen dürfe als das Regime Putin und daß man jetzt nicht etwas beschließen dürfe, das man nur kurze Zeit durchhalten könne. Andererseits wurde von Deutschland sowie der EU mit Ausnahme von Ungarn die Forderung Putins zurückgewiesen, die russischen Öl- und Gaslieferungen ab dem 1. April 2022 in Rubel zahlen zu müssen. Seitdem droht verstärkt, daß Putin jederzeit den Gashahn zudrehen kann. Für diesen Fall hat die Bundesregierung Notfallpläne.
Falls Putin Deutschland den Gashahn von sich aus zudreht, müssen die ökonomischen Schäden ohnehin getragen werden. Die Befürworter eines sofortigen Öl- und Gasembargos argumentieren deshalb, daß man diese Kosten dann doch auch sofort tragen könne, zumal dann die Möglichkeit bestünde, die Finanzierungsmöglichkeiten des Regimes Putin schneller und wirksamer zu beschneiden, und die Chance steige, daß der Krieg in der Ukraine schneller beendet werden könnte oder sich zumindest nicht auf weitere Länder ausweiten werde.
Aber wie groß könnten die Kosten eines sofortigen Energieembargos sein? Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung führt zu den Auswirkungen eines Wegfalls russischer Rohstofflieferungen auf die Energiesicherheit und die Wirtschaftsleistung in seiner aktualisierten Konjunkturprognose vom März 2022 für die Jahre 2022 und 2023 aus, daß ein Ausfall von Energielieferungen aus Russland einen deutlich negativen Effekt auf das BIP-Wachstum haben dürfte. Bereits ohne einen Ausfall von Energielieferungen müsse aufgrund höherer Energiepreise mit Abschlägen auf die Wirtschaftsleistung gerechnet werden:
„Abhängig von der Stärke und der Dauer des unterstellten Anstiegs der Energiepreise und einer möglichen Amplifikation über den Finanzmarkt kommen die verschiedenen Abschätzungen für den Euro-Raum zu einem Abschlag von 1,2% bis 2,2% des BIP im Jahr 2022 gegenüber den Prognosen unter Berücksichtigung der jeweils aktuellen Kriegs- und Sanktionslage. Der Aufschlag für die Inflationsrate im Jahr 2022 liegt je nach Szenario zwischen 0,8% und 2,6%. Neben diesen Szenariorechnungen, die insbesondere die Auswirkungen höherer Energiepreise in den gängigen Prognosemodellen abschätzen, existieren weitere Ansätze zur Abschätzung eines Abschlags auf das BIP-Wachstum, etwa infolge eines vollständigen Importstopps russischer Energieträger“ (S. 8).
Je nach Risikoszenario und Annahme über die Substitutionsmöglichkeiten müsse bei einem Stopp russischer Erdgasimporte mit weiteren Abschlägen zwischen 0,2 und 2,2 Prozentpunkten gerechnet werden. Insbesondere könne in der sehr kurzen Frist bei einem vollständigen Ausfall russischer Energieimporte eingeschränktere Möglichkeiten zur Substitution russischer Energieträger bestehen als in diesen Abschätzungen unterstellt werde. Das würde einen entsprechend stärkeren Einbruch des BIP-Wachstums nach sich ziehen. So werde von verschiedenen Seiten argumentiert, daß kurzfristige Knappheiten sowohl bei der Gas- als auch bei der Kohleversorgung zu einschneidenden Produktionsunterbrechungen bei energieintensiven Unternehmen führten und diese wiederum Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit und damit Nachfrageeinschränkungen zur Folge haben würden.
Durch Produktionsunterbrechungen könnten sich die Lieferengpässe in verschiedenen Wirtschaftsbereichen noch verschärfen. Zudem würde die durch die weiter steigenden Energiepreise zusätzlich angeheizte Inflation die Nachfrage dämpfen und dadurch die Konjunktur zusätzlich belasten. Neben den genannten Effekten könne ein starker Anstieg der Energiepreise und ein Rückgang des BIP zu Ausfällen von Krediten und somit zu Verwerfungen an den Finanzmärkten führen.
Diese negativen Prognosen werden durch die Frühjahrsprognose der führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute vom 13. April 2022 noch überboten. Anstelle eines im Herbst prognostizierten Wachstums von 4,8 Prozent des BIP gehen sie nur noch von einem Wachstum von 2,7 Prozent des BIP für 2022 und von 3,1 Prozent für 2023 aus. Sollte Deutschland einen sofortigen Lieferstopp von Öl und Gas beschließen, dann würde Deutschland jedoch in eine scharfe Rezession fallen:
„Der kumulierte Verlust an gesamtwirtschaftlicher Produktion dürfte sich in diesem Fall bereits in den beiden Jahren 2022 und 2023 auf rund 220 Mrd. Euro belaufen, was mehr als 6,5% der jährlichen Wirtschaftsleistung entspricht.“ 5
Aber auch diese Abschätzungen helfen politisch nicht weiter. Deutschland hat sich ohne Not und aus politischer Blindheit und Naivität in die Energieabhängigkeit von Russland begeben. Die jetzt drohenden Kosten eines Lieferstopps für Öl und Gas – sei er von uns durch ein Embargo ausgelöst oder von Putin, weil wir nicht in Rubel zahlen – hat die deutsche Politik selbst fahrlässig erzeugt. Warnungen verbündeter Staaten hat Deutschland jahrelang beiseitegeschoben und als Paranoia bezeichnet. Politisch stellt sich deshalb die Frage, ob Deutschland nicht gerade deshalb die Pflicht hat, diese Kosten jetzt zu tragen, um ein geschlossenes und effektives Vorgehen des Westens und der EU nicht auszubremsen.
Bei der Verabschiedung der sogenannten Eurorettungspakete wurde vielfach betont, daß Deutschland diesen trotz aller ökonomischer und ordnungspolitischer Bedenken zustimmen müsse, damit sich Deutschland nicht in Europa isoliere. Es ist zwar mehr als fraglich, ob sich Deutschland damals wirklich in Europa politisch isoliert hätte. Dafür gab und gibt es zu viele andere Euromitgliedsländer, welche die ordnungspolitische Fragwürdigkeit der sogenannten Eurorettungspakete ebenfalls teilen.
Heute wird indes eine andauernd zaudernde und schwankende Politik der deutschen Bundesregierung in Fragen des Ukraine-Krieges zweifelsohne Deutschland in der EU und in der westlichen Allianz politisch mehr und mehr isolieren. Und die ökonomischen Kosten dieser Isolation dürften die Kosten eines schnellen Energieembargos mittel- und langfristig bei weitem übersteigen. Zur Zeit wird Deutschland sowohl in Hinsicht eines schnellen und wirksamen Energieembargos als auch in Bezug auf die Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine als Bremser wahrgenommen.
Insgesamt gewinnt man den Eindruck, daß in Teilen der deutschen Politik immer noch nicht verstanden wurde, daß sich auch Deutschland in einem Krieg befindet. In einem Krieg, in welchem Deutschland nicht völkerrechtlich, aber politisch Partei ist. Davon zeugt die Verschleppung von Waffenlieferungen an die Ukraine durch den Bundeskanzler.
Vor dem 24. Februar 2022 hat man sich der Illusion hingegeben, daß man Sicherheits- und Verteidigungspolitik durch Wirtschaftssanktionen ersetzen kann. Nach dem 24. Februar 2022 scheint sich nun ein Teil der Koalitionäre – vor allem in der SPD – der Illusion hinzugeben, daß man sich im Krieg wegducken kann. Man meint zudem, keinen konsequenten Wirtschaftskrieg führen zu müssen, und man hofft, daß man in diesem Wirtschaftskrieg die Kosten, die man vorher selbst fahrlässig erzeugt hat, jetzt nicht tragen brauche. Die politischen und ökonomischen Kosten dieser Illusionen könnten die Kosten eines sofortigen Energieembargos bei weitem übersteigen und uns noch teuer zu stehen bekommen.
Downloads:
1 Siehe bereits Norbert F. Tofall: Ziele und Wirksamkeit von Wirtschaftssanktionen. Eine Betrachtung hinsichtlich des Russland-Ukraine-Konflikts, Studie des Flossbach von Storch Research Institute vom 3. Februar 2015, insb. S. 11 f. sowie Norbert F. Tofall: Russland und die Ukraine. Helfen neue Wirtschaftssanktionen weiter? Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 30. November 2018.
2 Siehe Gary Clyde Hufbauer; Jeffrey J. Schott; Kimberly Ann Elliott; Barbara Oegg: Economic Sanctions RECONSIDERED, 3rd Edition, Washington DC (Peterson Institute for International Economics) 2007 sowie Robert A. Pape: „Why Economic Sanctions Still Do Not Work“, in: International Security 23 (1998), S. 66 – 77.
3 Siehe Nils Ole Oermann und Hans-Jürgen Wolff: Wirtschaftskriege. Geschichte und Gegenwart, Freiburg i.B. (Herder) 2019, S. 25 f. sowie Ulrich Blum: Wirtschaftskrieg. Rivalität ökonomisch zu Ende denken, Wiesbaden (Springer Gabler) 2020.
4 Vgl. Oermann/Wolff, ebenda, S. 25.
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