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Geldanlage
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16 Minuten

Mein Grün. Dein Grün. Unser Grün?

- Theresa Eyerund

ESG* und Nachhaltigkeit sind in der Finanzbranche (und darüber hinaus) mit Konflikten und Frust verbunden. Das liegt auch daran, dass die menschliche Psyche sich nach Eindeutigkeit sehnt. Die kann es bei den Themen aber gar nicht geben, auch wenn Regulierer, Ratinganbieter oder Marketingexperten sie vorgaukeln.

Stellen Sie sich vor, Sie überfliegen im Wirtschaftsteil einer großen Tageszeitung die Überschriften und lesen einen Titel wie „Windradproduzent erhält aus Nachhaltigkeitsgründen keinen Kredit“. Was ist Ihr erster Gedanke? Verwunderung, Unverständnis, Neugier?

Die spontane Bewertung einer Situation oder Information prägt unser längerfristiges Vertrauen und Verständnis mehr, als wir annehmen. Auch bei relativ neuartigen Begriffen wie Green Bonds, Klimafonds oder Green Finance haben wir üblicherweise eine erste Vorstellung dessen, was sich dahinter im besten Fall verbergen sollte. Aber was, wenn dieser Eindruck auf den zweiten Blick täuscht?

Das Bild, das mit „grün“ assoziiert wird, stellt meist nur einen Aspekt dessen dar, was gemeinhin als nachhaltig verstanden wird. Nachhaltigkeitsdefinitionen besagen üblicherweise, dass ökologische, soziale und wirtschaftliche Aspekte vereint werden sollen. Diese Vielschichtigkeit erzeugt Komplexität.

Unabhängig davon, wie viele und welche Dimensionen eine Nachhaltigkeitsdefinition vereinen möchte – immer geht es um Ziele, die gesellschaftlich als wünschenswert angesehen werden. Doch was ein gesellschaftlich wünschenswertes Produkt oder eine positive Aktivität ist, hängt immer von der jeweiligen Perspektive ab.

Dabei spielen verschiedene Aspekte eine Rolle, etwa die politische Überzeugung, der Kenntnisstand, persönliche Erfahrungen, die Herkunft, Alter oder Einkommen. Nicht zu vergessen das Weltgeschehen um uns herum. Der Blick auf das Thema Nachhaltigkeit ist in Kriegs- und Krisenzeiten ein anderer.

Eine Frage des Blickwinkels

Hinzu kommt, dass die Nachhaltigkeitsdimensionen unabhängig voneinander sein können und unter Umständen sogar im Konflikt zueinander stehen. Umweltschutzmaßnahmen erzeugen mit hoher Wahrscheinlichkeit Kosten, die die wirtschaftliche Dimension eines Unternehmens oder einer Person negativ beeinträchtigen können.

Wirtschaftlich erforderliche Kosteneinsparungen hingegen verlangen unter Umständen Entlassungen, die soziale Belange negativ beeinflussen. Auch wenn keine direkten Konflikte zwischen den Dimensionen entstehen, können sie leicht gegeneinander ausgespielt werden.

Einem Unternehmen, das zwar umfangreiche ökologische Maßnahmen umsetzt, kann trotzdem vorgeworfen werden, in sozialen Belangen Versäumnisse zu haben. Welcher Aspekt priorisiert oder höher gewichtet wird, ist eine Frage der Methodik oder – wie zuvor beschrieben – des Blickwinkels.

Bezogen auf Unternehmen kommt ein weiterer verkomplizierender Faktor hinzu: Ihr Nachhaltigkeitsbild in der Öffentlichkeit kann sich auf zwei Aspekte beziehen – die Produkte und Dienstleistungen, die es anbietet, oder die Herstellungsbedingungen im eigenen Betrieb und entlang der Wertschöpfungskette.

Ist ein nachhaltiges Unternehmen eines, das aktuell erwünschte Produkte wie Elektroautos anbietet? Oder ist ein nachhaltiges Unternehmen eines, dem es gelingt, Produkte und Dienstleistungen mit wenig Ressourceneinsatz und unter möglichst guten Bedingungen herzustellen? Mitunter können zwischen beiden Wirkungsbereichen erhebliche Differenzen liegen.

Jenseits von gut und Böse

Anders ausgedrückt: Eine klare Einteilung in Gut und Böse, sauber und dreckig, schwarz und weiß ist beim Thema Nachhaltigkeit nicht möglich. Dabei könnte man meinen, dass Menschen in der Lage sind, sehr viel komplexere Probleme zu lösen, oder etwa nicht?

Mehrdeutigkeit (Ambiguität) ist ein Zustand, den die menschliche Psyche nur schwer ertragen kann. Die Fähigkeit, mehrdeutige beziehungsweise widersprüchliche Sachverhalte, ungewisse und unsichere Situationen zu akzeptieren, zu ertragen und nicht als bedrohlich zu empfinden, wird auch als Ambiguitätstoleranz beschrieben. Diese aufrechtzuerhalten ist sehr anstrengend und führt oft zu keiner klaren Handlungsableitung.

Menschen versuchen deshalb, widersprüchliche Informationen aufzulösen oder sie von vornherein zu ignorieren. Das erfüllt zwei wesentliche Zwecke: Kognitive Ressourcen sparen und ein positives Selbstbild erhalten.

Eindeutig mehrdeutig!

Der Drang nach Eindeutigkeit geht so weit, dass Menschen dazu neigen, Informationen zu ignorieren, die nicht zu ihren Vorstellungen passen und diejenigen stärker wahrzunehmen, die zu ihrem bereits etablierten Weltbild passen.

Habe ich mit einem Anbieter oder einem Unternehmen gute Erfahrungen gemacht (das gilt nicht nur für ESG-Themen!), besteht die Tendenz, Informationen, die auf einen verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen hinweisen, stärker wahrzunehmen als gegenteilige Informationen.

Andersherum werden positive Informationen zu einem Unternehmen oder Anbieter, der von vornherein als „zwielichtig“ oder „schmutzig“ abgespeichert wurde, unbewusst ignoriert oder relativiert. Insbesondere dann, wenn wir keine Zeit (oder Lust) haben, uns intensiver damit zu beschäftigen, nutzen wir gedankliche Abkürzungen, um zu einem schnellen und ausreichend gut empfundenen Urteil zu gelangen.

Der Halo-Effekt besagt, dass Menschen dazu neigen, auf Basis einer Eigenschaft einer Person auf andere Eigenschaften zu schließen, auch wenn diese nichts miteinander zu tun haben. Wird ein Mensch als sympathisch eingeschätzt, gilt er gleichermaßen als umgänglich und führungsstark.

Der „Heiligenschein („Halo“)“ überstrahlt die Person in unserer Wahrnehmung. Gleichzeitig können die Teufelshörner („Horn“), die wir einer Person aufgrund eines negativen Merkmals aufsetzen, nur schwer von anderen Persönlichkeitsbereichen getrennt werden.

Im ESG-Kontext kann das dazu führen, dass ein besonders ökologisches Image eines Unternehmens uns vermuten lässt, dass dieses auch in sozialen oder wirtschaftlichen Belangen positiv ist. Wir tendieren dazu, eine kohärente Einschätzung zu erzeugen.

Immer dann, wenn es um schnelle Einschätzungen geht, suchen wir nach Hinweisen und knüpfen sie an vorhandene Informationen. Das bedeutet nicht, dass einmal gefestigte Meinungen nicht mehr geändert werden, aber unser psychologisches Immunsystem unternimmt allerlei kreative Versuche, widersprüchliche Informationen erst einmal so zu gewichten und einzuordnen, dass sie keine Bedrohung für unser Selbst- beziehungsweise unser Weltbild darstellen.

Wir machen es uns (zu) einfach…

Nachhaltigkeit ist vielschichtig – das ist keine neue Erkenntnis. Umso nachvollziehbarer ist der Versuch, das Thema greifbarer zu machen, indem versucht wird, es zu vereinfachen. Besonders erfolgreich sind darin die Ratinganbieter. Ähnlich wie der Nutri-Score beziehungsweise die Lebensmittel-Ampel ist ein ESG-Label/-Siegel/-Rating der Versuch, verschiedene in unterschiedlichem Maße positive oder negative Eigenschaften auf einen einzelnen Wert zu verdichten.

Der Nutri-Score weist Lebensmitteln in den Eigenschaften Energie, Zucker, gesättigte Fettsäuren und Natrium/Salz jeweils Punkte zu und berechnet daraus eine Note von A bis E. Eine ausgewogene Ernährung besteht aber nicht nur aus A-Produkten (Lachs hat beispielsweise einen Nutri-Score von D!).

Ein Vergleich unterschiedlicher Lebensmittelkategorien wie Milchprodukte und Müslis ist ebenfalls wenig aussagekräftig. ESG-Ratings verdichten Informationen aus den Bereichen Ökologie, Soziales und Governance und erstellen daraus einen Score von zum Beispiel A bis E.

Der Wunsch nach Eindeutigkeit und Einfachheit erklärt die große Popularität von Rankings, Ratings und Siegeln. Denn diese verdichten viele Informationen zu einer einfachen Zahl oder einem einfachen Buchstaben. Unser Gehirn bekommt so eine schnelle Antwort – es muss nicht erst nach Informationen suchen und diese abwägen. Welche Methodik hinter einem Ranking oder Rating steckt und ob bestimmte Aspekte überhaupt numerisch einzuordnen sind, ist zunächst irrelevant.

Eine andere Form der Vereinfachung, der wir uns gerne bedienen, sind Kriterienkataloge, die eine klare Einwertung vornehmen. Im Finanzsektor als Taxonomie bekannt. Ziel der EU-Taxonomie ist es, wirtschaftliche Aktivitäten zu identifizieren, die als nachhaltig eingestuft werden, um Kapitalströme in diese Bereiche zu lenken.

Damit ist ein politischer Aushandlungsprozess verbunden, an dessen Ende eine Entscheidung steht, die zwar nicht von allen geteilt wird, aber in einem transparenten Prozess errungen wurde und damit fürs Erste gilt. Alles, was auf dieser Liste steht, wird als nachhaltig betrachtet.

Ohne dass im Umkehrschluss gelten muss, dass alles, was nicht darauf steht, nicht nachhaltig wäre. Da sich die Taxonomie aktuell nur auf ökologische Aspekte bezieht, gibt es zumindest das Problem der Vielschichtigkeit nicht. Das Problem des Blickwinkels wird durch die Einordnung ebenfalls zur Seite geschoben.

Dass dieser Prozess nicht immer harmonisch verläuft, konnte man an der Diskussion zur Einordnung von Stromerzeugung aus Atomkraft und Gas erkennen. Hier gab es viel Für und Wider. Am Ende wurden beide Technologien unter bestimmten Bedingungen als notwendige Übergangstechnologien und damit als nachhaltig im Sinne der Taxonomie eingeordnet.

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