Skip to Content

Diskontieren ist leicht, oder etwa nicht?

Philipp Immenkötter

Möchte man wirklich so lange sein Geld binden? Vielleicht sollte es doch lieber auf dem Konto bleiben, als dass es erst in ferner Zukunft wieder zurückkehrt. Nach den Überlegungen verwirft man das Kaufvorhaben gänzlich.

In der Ökonomie und der Psychologie wird dieses Phänomen als Zeitpräferenz bezeichnet. Menschen bevorzugen den heutigen Besitz eines Guts gegenüber dem Fall, dass sie erst in der Zukunft in Besitz des Guts kommen würden. Der Euro in der fernen Zukunft hat einfach einen geringeren Nutzen als der Euro, den man hier und heute in der Geldbörse hat. Daher fällt es schwer, den heutigen Euro mit dem zukünftigen zu vergleichen, geschweige denn sie miteinander zu verrechnen.

In vielen Situationen kommt man jedoch nicht drumherum, heutige und zukünftige Zahlungen miteinander zu verrechnen. Ist der Preis für ein Finanzprodukt für die Altersvorsorge angemessen? Entschädigen die erwarteten zukünftigen Auszahlung für den heutigen Verzicht? Es bedarf also einem Schema, um Zahlungsströme, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten auftreten, miteinander vergleichbar zu machen. Dieser Vorgang wird in der Ökonomie mit Diskontierung bezeichnet.

Bei der Diskontierung bedient man sich üblicher Weise der Zinseszinsrechnung. Sind für eine Anlegerin 100 Euro, die sie heute besitzt, von gleichem Nutzen wie 110 Euro, die sie erst in einem Jahr bekommen würde, so beträgt ihr impliziter Diskontierungssatz 10%, welche ihre Zeitpräferenz beschreibt.1 Hat man diesen Diskontierungssatz einmal bestimmt, kann man ihn auf andere Zahlungsströme anwenden, um den heutigen Nutzen in einem Eurobetrag auszudrücken. Zahlt beispielsweise ein Altersvorsorgeprodukt in 30 Jahren einmalig 20.000 Euro aus, so hätte dies für die Anlegerin den gleichen Nutzen wie der Betrag von 1.145 Euro heute.2 Daher wäre die Anlegerin auch nicht bereit mehr als diesen Preis für das besagte Produkt zu bezahlen.

Das beschriebene Vorgehen, die zeitlich unterschiedlich auftretenden Zahlungsströme mittels Zinseszinsrechnung vergleichbar zu machen, bezeichnet man als exponentielle Diskontierung.3 Es ist die gängige Praxis, um zwischen Anlagealternativen zu entscheiden. Es ist intuitiv, wird als gegeben hingenommen und nur selten hinterfragt. Auch der Gesetzgeber verlangt in vielen Fällen wie im Risikomanagement von Investmentfonds die Anwendung dieser Rechenmethodik.

Weniger bekannt ist, dass es sich bei der exponentiellen Diskontierung lediglich um eine Annahme handelt. Exponentiell zu diskontieren ist keine Gegebenheit oder gar ein Naturgesetz. Es ist nur eine von vielen Möglichkeiten mit der Zeitpräferenz der Anleger umzugehen. Die Überlegungen gehen auf das Expected Utility Model von Samuelson (1937) zurück.4 Es ist das erste vollständige ökonomische Modell, wie man es heute kennt, mit dem man den Nutzen zukünftiger Zahlungsströme von Anlegern messen kann, um darauf aufbauend Entscheidungen zu treffen. Das Modell kommt mit wenigen Annahmen, wie beispielsweise einer positiven und konstanten Zeitpräferenz und zeitkonsistentem Verhalten von Individuen aus. Die Diskontierung in dem Modell entspricht der Formel des Zinseszinses und ist mathematisch leicht handhabbar. Diese Eigenschaften trugen dazu bei, dass sich das exponentielle Diskontieren als Standard in der Ökonomie und Finanzindustrie durchgesetzt hat.

Dabei hat die Anwendung des exponentiellen Diskontierens eklatante Probleme. Es entspricht nicht dem menschlichen Handeln, bzw. nicht dem Handeln, welches sich durch Beobachtungen und Experimente feststellen lässt.

Die exponentielle Formel der Zinseszinsrechnung mit konstanter Zeitpräferenz kann der menschlichen Ungeduld, welche zu teilen die Zeitpräferenzen erzeugt, nur schwer Rechnung tragen. In diversen Experimenten wurde dies gezeigt, am bekanntesten davon ist die Umfrage von Richard Thaler (1981).5 Er zeigte, dass Individuen keine konstante Zeitpräferenz haben. Denn als Austausch für einen Betrag von 15 Dollar verlangten die Probanden 50 Dollar in einem Jahr oder 100 Dollar in zehn Jahren. Nutzt man die exponentielle Diskontierung, um die impliziten Diskontsätze zu berechnen, betragen sie 233% für ein Jahr, aber nur 21% für 10 Jahre.

Auch die im Samuelson-Modell angenommene zeitliche Konsistenz des Handelns kann bezweifelt werden. In einem Experiment sollten sich Personen zwischen einer direkten Zahlung von 100 Dollar oder 110 Dollar am nächsten Tag entscheiden. Die Mehrheit bevorzugte die direkte geringere Zahlung. Wurde jedoch eine Zahlung von 100 Dollar in 30 Tagen oder 110 in 31 Tagen angeboten, fiel die Wahl auf das letztere höhere.6 Dieses Verhalten lässt sich nicht mit einer exponentiellen Diskontfunktion erklären, denn wer heute lieber den geringeren Betrag bevorzugt, müsste bei einer exponentiellen Diskontfunktion auch dem geringeren Betrag in 30 Tagen einen höheren Nutzen zuweisen, anstatt einen weiteren Tag auf den höheren Betrag zu warten. Es scheint also ein zeitlich inkonsistentes Verhalten vorzuliegen.

Die akademische Literatur bietet diverse Alternativen zur exponentiellen Diskontierung an, welche jedoch ebenfalls mit Vor- und Nachteilen verbunden sind. Die Arbeiten von Phelps & Pollak (1968) und Laibson (1997) machen sich einem einfachen Trick zu Nutze, indem sie alle zukünftigen Zahlungen auf einen Bruchteil reduzieren.7 Ihre empirischen Daten deuten an, dass Anleger den Nutzen zukünftiger Zahlungsströme lediglich 40 % des Nominalbetrags bemessen. Um zusätzlich die zeitliche Struktur zu berücksichtigen, nutzen sie zusätzlich den Zinseszinseffekt zur Diskontierung. Diese Art der Diskontierung bezeichnet man mit quasi-hyperbolischer Diskontierung.

Ein weiterer Ansatz, der sowohl die Ungeduld als auch zeitinkonsistentes Verhalten darstellen kann, geht auf Ainslie (1975) zurück und setzt den jeweiligen erwarteten Zahlungsstrom ins Verhältnis zur Zeitspanne.8 Erfolgt ein Zahlungsstrom erst in einem Jahr, so muss er halbiert werden, um dem heutigen Nutzen zu entsprechen. Liegt er noch ein weiteres Jahr in der Zukunft, wird die Höher der Zahlung gedrittelt, und so weiter. Diese Art der Diskontierung wird als hyperbolische Diskontierung bezeichnet.

Diskontieren ist leicht, oder etwa nicht? -

1 Denn 100 € (1+10%) = 110 €.

2 Gegeben des Diskontierungszins von 10% erhält man: 20.000 Euro / (1+10%)30 = 1.145 Euro.

3 Allgemein lautet die Formel zur exponentiellen Diskontierung eines zukünftigen Zahlungsstroms: D(t) = 1 / (1+i)t, wobei i der Diskontierungssatz ist und t der Zeitpunkt an dem die Zahlung auftritt.

4 Siehe hierzu: Samuelson, P. A. (1937): “A Note on Measurement of Utility”, The Review of Economic Studies, 4(2), S. 155–161.

5 Thaler, R. (1981): „Some empirical evidence on dynamic inconsistency“, Economic Letters, 8(3), S. 201-207.

6 Siehe hierzu: Fredrick, S., G. Loewenstein & T. O’Donoghue (2002): “Time Discounting and Time Preference: A Critical Review”, Journal of Economic Literature, 40(2), S. 351–401.

7 Siehe hierzu Phelps, E. und R. Pollak (1968): “On Second-Best National Saving and Game-Equilibrium Growth”, The Review of Economic Studies, 35(2), S. 185-199, sowie Laibson, D. (1997): “Golden eggs and hyperbolic discounting”, The Quarterly Journal of Economics, 112(2), S. 443-477.

8 Siehe hierzu Ainslie, G. (1975): “Specious Reward: A Behavioral Theory of Impulsiveness and Impulse Control”, Psychological Bulletin, 82(4), S. 463–496.

9 Siehe hierzu Laibson (1997).

Glossar

Verschiedene Fachbegriffe aus der Welt der Finanzen finden Sie in unserem Glossar erklärt.

Die neuste Ausgabe der Position

„Innovation oder Revolution?“

Das Thema Künstliche Intelligenz (KI) ist in aller Munde, auch (oder besser: insbesondere) an der Börse. Aktien, die als die großen KI-Profiteure gelten, haben ein Hoch nach dem anderen erklommen, bevor so manche von ihnen Anfang August korrigierten. Was bedeutet das langfristig für Anlegerinnen und Anleger?

RECHTLICHER HINWEIS

Diese Veröffentlichung dient unter anderem als Werbemitteilung.

Die in dieser Veröffentlichung enthaltenen Informationen und zum Ausdruck gebrachten Meinungen geben die Einschätzungen von Flossbach von Storch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wieder und können sich jederzeit ohne vorherige Ankündigung ändern. Angaben zu in die Zukunft gerichteten Aussagen spiegeln die Zukunftserwartung von Flossbach von Storch wider, können aber erheblich von den tatsächlichen Entwicklungen und Ergebnissen abweichen. Für die Richtigkeit und Vollständigkeit kann keine Gewähr übernommen werden. Der Wert jedes Investments kann sinken oder steigen und Sie erhalten möglicherweise nicht den investierten Geldbetrag zurück.

Mit dieser Veröffentlichung wird kein Angebot zum Verkauf, Kauf oder zur Zeichnung von Wertpapieren oder sonstigen Titeln unterbreitet. Die enthaltenen Informationen und Einschätzungen stellen keine Anlageberatung oder sonstige Empfehlung dar. Sie ersetzen unter anderem keine individuelle Anlageberatung.

Diese Veröffentlichung unterliegt urheber-, marken- und gewerblichen Schutzrechten. Eine Vervielfältigung, Verbreitung, Bereithaltung zum Abruf oder Online-Zugänglichmachung (Übernahme in andere Webseite) der Veröffentlichung ganz oder teilweise, in veränderter oder unveränderter Form ist nur nach vorheriger schriftlicher Zustimmung von Flossbach von Storch zulässig.

Angaben zu historischen Wertentwicklungen sind kein Indikator für zukünftige Wertentwicklungen.

© 2024 Flossbach von Storch. Alle Rechte vorbehalten.

Back to top