Kaum mehr Wachstum, dafür umso mehr Bürokratie: Europa droht international den Anschluss zu verlieren, allen voran Deutschland. Zeit, nach Lösungen für die Probleme zu suchen. Die gibt es. Ein Gastbeitrag von Dr. Theodor Weimer.
Der jüngste „Economic Outlook“ der OECD spricht eine eindeutige Sprache: Unter den großen Wirtschaftsregionen der Welt ist der Euroraum mit einem prognostizierten Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von nur 0,6 Prozent das Schlusslicht. Und unter den großen Mitgliedsländern des Euroraums steht Deutschland am schlechtesten da; mit einem Minus von 0,2 Prozent liegt es weit abgeschlagen hinter Frankreich, Italien und Spanien.
Das neuerdings wieder in Mode gekommene Wort von Deutschland als dem „kranken Mann Europas“ ist nicht aus der Luft gegriffen. Zwar ist es eher ein Schwächeln, weil wir uns zu lange auf vergangenen Erfolgen ausgeruht haben; doch die deutsche Wirtschaft hat ihren Muskelabbau mangels Training zu lange ignoriert. Die Malaise Deutschlands lässt sich von der Schwäche Europas nicht trennen. Nur wenn wir uns einem Fitnessprogramm unterziehen, wird sich auch Europas Stellung in der Welt wieder festigen.
Meine These lautet: Damit das geschieht, müssen wir den Kapitalmarkt stärken. Natürlich hat Bundesbank-Präsident Joachim Nagel recht, wenn er sagt: „Wir sollten uns ‚Made in Germany‘ nicht kleinreden lassen. Das deutsche Wirtschaftsmodell ist kein Auslaufmodell.“ Doch noch mehr ist ihm beizupflichten, wenn er hinzufügt: „Aber es braucht ein Update.“ Nicht schlechtreden ist jetzt angesagt, sondern besser machen. Dazu braucht es aber vor dem Update eine treffende Fehlerdiagnose.
Problem Nr. 1
Europa hat den Tech-Zug verschlafen – bei der Digitalisierung, bei der Plattform-Ökonomie, bei der Cloud. Und auch bei der Künstlichen Intelligenz (KI) werden die großen Firmen in den USA die Gewinner sein. Das liegt nicht an mangelndem Erfindergeist. Viele Innovationen, auch im Bereich der KI, stammen zwar aus Deutschland, aber in Geschäftsideen umgesetzt werden sie anderswo.
Deutschlands industrielle Basis erodiert schleichend. Die modernen Industrien entstehen in den USA und in China, auch in Saudi-Arabien. Der Fehler liegt im System: Die Bürokratie ist überbordend. Es wird nicht mehr investiert, weil die Planungsverfahren zu lange dauern. Die Digitalisierung in der öffentlichen Verwaltung kommt nicht voran; Estland und Lettland machen vor, wie es geht.
Und die Märkte, die Kapital für die Umsetzung von Geschäftsideen liefern könnten, sind nach wie vor unterentwickelt.
Problem Nr. 2
Deutschland – und mit ihm Europa – war ein Profiteur der Globalisierung. Als zeitweiliger Exportweltmeister profitierte die deutsche Wirtschaft insbesondere vom Wachstum in China und von billigen Energieimporten aus Russland. Beides ist weggebrochen. Die chinesische Wirtschaft schwächelt, und Russland wird auf absehbare Zeit kein verlässlicher Wirtschaftspartner mehr sein.
Die Energiewende mag langfristig neue Chancen eröffnen, doch auf kurze Sicht treibt sie zunächst einmal die Kosten in die Höhe – und belastet damit die Wirtschaft weiter.
Deutschland hat ein industrielles Geschäftsmodell. An diesem müsste man eigentlich festhalten. Das passiert aber nicht. Deutschland als Industrieland par excellence braucht eine verlässliche und kostengünstige Energieversorgung. Und diese setzen wir gerade aufs Spiel. Wir sind ein Land geworden, in dem die jetzige Generation die Chancen der zukünftigen zerstört.
Problem Nr. 3
Die Demografie läuft dramatisch gegen uns. Spürbar ist das bereits jetzt, in einem jeden Tag drückender werdenden Mangel an Fachkräften. Doch was wir heute erleben, ist nur ein Vorgeschmack darauf, was uns in den kommenden Jahren bevorsteht: Dann gehen die Boomer in Rente. Und sie entziehen damit nicht nur der Wirtschaft ihre Arbeitskraft; sie belasten auch den Staatshaushalt.
Deutschland gehört immer noch zu den Ländern weltweit, die sich ein umlagefinanziertes System der Altersrente leisten. Mit der demografischen Entwicklung kann dieses System nicht mithalten. Immer mehr Menschen führt dieses System in die Altersarmut. Wie stabil es auf lange Sicht ist, steht in den Sternen.
Immerhin: Hier tun sich gerade neue Horizonte auf. Die Pläne für eine Aktienrente gehören zweifellos zu den guten Nachrichten im politischen Tagesgeschehen der jüngsten Zeit. Sie passt zur jüngsten Renaissance der Aktienkultur in Deutschland. Im vergangenen Jahr waren hierzulande fast 13 Millionen Menschen in Aktien, Aktienfonds oder ETFs investiert, fast ein Fünftel der Bevölkerung ab 14 Jahren. Das sind mehr als beim bisherigen Höchststand des Jahres 2001.
Es ist zu hoffen, dass von der Aktienrente eine Initialzündung ausgeht, die die Wirtschaft endlich wieder in Gang bringt. Vielleicht kann das Wasser der Märkte auf Dauer den harten Stein der Bürokratie brechen. Noch sind Initiativen wie die Aktienrente aber nicht mehr als ein Anfang.
Werfen wir einen Blick auf den Anteil der Marktkapitalisierung am Bruttoinlandsprodukt im internationalen Vergleich: Auf der ganzen Welt ist der Wert der gelisteten Firmen seit dem Jahr 2000 von 101 Prozent des Welt-BIPs auf 133 Prozent gestiegen. In den USA hat er sich von 147 auf 193 Prozent erhöht. Doch in Deutschland ist er von 65 auf 59 Prozent gesunken. Im Rest der EU sieht es nicht viel besser aus. Wir sind in Europa weit entfernt von der Tiefe des US-Kapitalmarkts. Das liegt auch an der Zersplitterung des europäischen Kapitalmarkts. In der EU gibt es über alle Anlageklassen 500 Handelsplattformen – in den USA 100.
Wer es mit Wachstum und Innovation ernst meint, geht in die USA, um sich dort Kapital an der Börse oder von privaten Kapitalgebern zu besorgen. Uns muss klar sein: Die technologische Transformation, die wir in Deutschland und Europa bewältigen müssen, schaffen wir nicht mit einer neuen Industriepolitik. Bürokratien sind notorisch schlecht darin, gute Investitionsentscheidungen zu treffen. Was wir brauchen, sind aufnahmefähige Kapitalmärkte. Sie fördern Investitionen nicht nur, indem sie Finanzen mobilisieren, sondern auch, indem sie die besten Ideen in einem dezentralen Entdeckungsprozess identifizieren und fördern. Sie sind die Fitnesstrainer der Wirtschaft.
Deshalb gilt: Wir können die notwendige technologische Transformation nur dann leisten, wenn wir den Kapitalmarkt stärken. Und das heißt auch: Wir dürfen Industrie und Kapitalmarkt nicht gegeneinander ausspielen. Wir müssen ihnen vielmehr die gleiche Bedeutung einräumen. Außer dem Staat kommt nur der Kapitalmarkt infrage, um die Summen zu mobilisieren und die Risiken zu streuen, die bei der Transformation der Industrie anfallen. Und das heißt für Europa: nur ein gemeinsamer, ein geeinter, ein vereinheitlichter Kapitalmarkt. Kurz: eine Kapitalmarktunion.
Seit 2015 gibt es einen europäischen Aktionsplan, um dem Kapitalmarkt die Rolle zu geben, die er verdient. Doch wir haben da ein Umsetzungsproblem. Wir müssen die Zersplitterung in Europa nun endlich beseitigen. Um eine Kapitalmarktunion der EU-Mitgliedsstaaten zu schaffen, müssen wir aber nicht nur gesetzliche, sondern auch mentale Barrieren abbauen.
Wir müssen mehr über den Kapitalmarkt sprechen: über seine Bedeutung für unsere Zukunft und darüber, wie er am besten funktioniert. Denn nur ein allgemein akzeptierter und verstandener Kapitalmarkt ist ein starker Kapitalmarkt.
Der Beitrag stammt aus dem Magazin „Position“, das Sie hier kostenfrei abonnieren können.
Über den Autor: Dr. Theodor Weimer ist seit Anfang 2018 Vorstandsvorsitzender der Deutschen Börse AG. Zuvor war er viele Jahre Vorstandsvorsitzender der HypoVereinsbank. Er studierte an den Universitäten Tübingen und St. Gallen Volkswirtschaft, Betriebswirtschaft und Geografie. Promoviert hat er an der Universität Bonn.
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