„Wenn man sich in einem chronisch undichten Boot befindet, ist die Energie, die mit einem Schiffswechsel verbunden ist, wahrscheinlich produktiver als die Energie, die man zum Reparieren von Lecks benötigt.” Was Warren Buffett, wahlweise Orakel von Omaha, Investorenlegende oder Börsen-Altmeister, exakt unter einem „chronisch undichten Boot“ versteht, ist nicht bekannt. Ziemlich sicher ist, dass er sich dabei auf Unternehmen bezieht, bei denen sich an der ein oder anderen Stelle kleinere oder größere Löcher zeigen – und zwar in deren Bilanzen, Gewinnberechnungen oder der Übersicht der Mittelflüsse. Buffett plädiert dafür, bei regelmäßigen Lücken lieber seine Investition komplett zu überdenken, als auf Besserung zu hoffen.
Die Anzahl an undichten Stellen innerhalb einer Bilanz kann beliebig hoch sein. Ein Blick in die oft mehrere hundert Seiten starken Geschäftsberichte lohnt fast immer – gerade in Zeiten, in denen eine globale Rezession wahrscheinlicher geworden ist. Denn auch ganz ohne Vertuschungsabsicht finden sich an der ein oder anderen Stelle Informationen, die Undichtigkeiten zeigen.
1. Gewinn ist nicht gleich Gesamtergebnis
Nicht jedem ist geläufig, dass es neben der allgemein bekannten Gewinn- und Verlustrechnung (GuV) noch eine alternative, erweiterte Ertragsberechnung gibt: die Gesamtergebnisrechnung. Zwischen der GuV und diesem eher wenig bekannten Gesamtergebnis liegt das „sonstige Ergebnis“, in Fachkreisen Other Comprehensive Income (OCI) genannt. Das OCI verlängert die bekannte Gewinn- und Verlustrechnung um weitere, in der GuV nicht verbuchte Gewinne und Verluste aus Wertveränderungen bestimmter Bilanzpositionen eines Unternehmens binnen einer Periode (Quartal oder Geschäftsjahr). Unter dem Strich steht das Gesamtergebnis (Comprehensive Income).
Zudem weisen Unternehmen in ihren Geschäftsberichten das Accumulated Other Comprehensive Income (AOCI) aus. Wie der Name schon sagt, summieren sich hier alle historisch zum Stichtag aufgelaufenen Wertveränderungen des OCI plus des OCI-Ergebnisses der gerade abgelaufenen Periode. Das AOCI wird vom Eigenkapital abgezogen (bei einem negativen AOCI) oder hinzugefügt (bei einem positiven AOCI), verringert oder erhöht dieses also (Abbildung 1).

Neben dem Eigenkapitalausweis finden sich Angaben zum OCI und AOCI in den Anhangangaben (Notes) und Fußnoten der jährlichen Geschäftsberichte der Unternehmen.
Die Summen, um die es geht, sind nicht ohne: Zum Jahresende 2024 lag das AOCI aller Unternehmen im weltwichtigsten Index S&P 500 bei minus 805 Milliarden Dollar. Der Tiefpunkt des AOCI mit minus 968 Milliarden Dollar fällt auf den Herbst 2022 und damit auf einen Zeitpunkt, zu dem die Rendite zehnjähriger US-Staatspapiere erstmal seit 2010 wieder die Vier-Prozent-Marke überschritten hatte (Abbildung 2).
Der Zusammenhang: Der rasante Anstieg vom Renditetief bei 0,51 Prozent im Jahr 2020 schlug sich in Vermögenspositionen der Bilanzen negativ nieder. Denn höhere Zinsen bedeuten sinkende Vermögenspreise. Ein Teil dieser negativen Wertveränderungen findet sich im OCI. Jeder Anleger, der einmal eine Anleihe im Depot hatte, kennt das: Steigen die Marktzinsen, gehen die Kurse von Anleihen zurück, ihr aktueller Marktwert sinkt. Fallen dagegen die Renditen, verzeichnen Zinspapiere wie Anleihen Kursgewinne.
Bei Pensionsrückstellungen, die auf der Finanzierungs- (Passiv-)Seite der Bilanz verbucht sind, und die mit Marktzinsen diskontiert werden, führen steigende Renditen zu einer Reduzierung der Position. Das entlastet die Bilanz.

Zwar haben sich an den Märkten zuletzt wieder Hoffnungen auf mehrere Zinssenkungen der US-Notenbank Federal Reserve breit gemacht. Doch von offizieller Seite kann davon keine Rede sein. So geht etwa Raphael Bostic, Präsident der Fed Atlanta, von nur einer Zins-Lockerung in diesem Jahr aus.
Deshalb macht es Sinn, bei der Betrachtung des OCI im S&P 500 im Folgenden ein besonderes Augenmerk auf den Finanzsektor zu legen, da dort ein besonders hohes Volumen an zinssensitiven Anlagen liegt.
2. Ergebnisvolatilität soll vermieden werden
Das OCI wurde im Bilanzregelwerk der Vereinigten Staaten von Amerika, den US Generally Accepted Accounting Principles (US-GAAP), im Jahr 1997 eingeführt, zunächst als „Reporting Comprehensive Income“. Die aus Europa heraus entwickelten International Financial Reporting Standards (IFRS) führten das OCI 2007 ein, und entwickelten es in den Jahren 2009 und 2011 weiter.
Sinn und Zweck des OCI ist zum einen, das Eigenkapital zum Bilanzstichtag genauer wiederzugeben, um etwa Wertveränderungen, die sich zum Teil zuvor nur in Fußnoten der Geschäftsberichte fanden, exakter abzubilden. Zudem glättet es die Jahresergebnisse der Unternehmen. Ihr Gewinn würde inklusive der im OCI zu findenden Wertveränderungen stärker schwanken.
Dieser Ansatz lässt sich in der Praxis bestätigen. Das OCI ist volatil. Auf Quartalsbasis von Ende 2014 bis Ende 2024 schwankte es bei den S&P-500-Unternehmen um durchschnittlich 930 Millionen Dollar, zeigt eine Auswertung von Bloomberg-Daten. Die größte Differenz während des Zehnjahreszeitraums hatte die New Yorker MetLife Versicherung mit einer Amplitude von 30 Milliarden Dollar.
Da der von den Unternehmen ausgewiesene Gewinn den Vorgaben der US-GAAP-Bilanzvorschriften folgt, sind die OCI-Schwankungen nur im Gesamtergebnis zu finden. Selbstverständlich ist es nicht ausgeschlossen, wenn auch unwahrscheinlich, dass das Gesamtergebnis eines Tages in die klassische Gewinn- und Verlustrechnung eingeht.
Gewinn ist eben Definitionssache. Vorwürfe, dass die internationalen Rechnungslegungsvorschriften „unrealisierte Erfolge unsystematisch“ erfassen, gibt es seit langem (siehe Antonakopoulos 2010, Knappstein und Hüttermann 2014). Auch deshalb präsentieren Unternehmen gerne sogenannte Non-GAAP-, oder Non-IFRS-Zahlen, die von den allgemein gültigen Vorgaben teilweise erheblich abweichen.
3. Frühwarnfunktion des sonstigen Ergebnisses
Das OCI hat eine Frühwarnfunktion. Denn ein Teil der dort dargestellten Wertänderungen kann sich zu einem späteren Zeitpunkt in der Gewinn- und Verlustrechnung niederschlagen (im Fachjargon: Recycling). Erst dann werden sie der breiten Öffentlichkeit gewahr.
Allerdings passiert das nicht 1:1, da zwischen der Verbuchung im OCI und später in der Gewinn- und Verlustrechnung Zeit vergeht – und sich währenddessen die bilanzierten Werte ändern können.
Investoren lesen am OCI also ab, wie stark Unternehmen von nicht realisierten Gewinnen oder Verlusten zukünftig betroffen sein könnten. Damit ist das OCI ein Risikoindikator. So können hohe Schwankungen im OCI ein Fingerzeig auf eine künftige Ergebnisvolatilität sein. Dies bedarf jeweils einer eingehenden Einzelanalyse der Unternehmen. Da das OCI das Eigenkapital verändert, wirkt es direkt auf davon abhängige Kennzahlen wie die Verschuldungsquote oder Eigenkapitalrendite.
Das OCI spielt nicht bei jedem Unternehmen eine Rolle, ist aber prinzipiell einer Gesamtanalyse eines Unternehmens dienlich. Denn die dort verbuchten Positionen gehen bei Konzernen nicht selten in die Milliarden.
Eine von insgesamt sechs Ausnahmen im S&P 500 ist der Logistik-Konzern Old Dominion Freight Line, der keinerlei bilanziellen Veränderungen im Sinne des OCI hat. Hier entspricht der Nettogewinn dem Gesamtergebnis.
4. Vermögen und Pensionen
Hinter dem OCI verbergen sich Wertveränderungen wichtiger Bilanzposten. Nach US-GAAP müssen Unternehmen Neubewertungen von Vermögenswerten, Pensionsverpflichtungen (darunter sogenannte versicherungsmathematische Gewinne und Verluste), Differenzen aus Währungsumrechnungen, Änderungen von beizulegenden Zeitwerten (Fair Value), noch nicht realisierten Gewinnen und Verlusten aus sogenannten Available-for-Sale-Schuldpapieren (AFS-Anlagen) und aus Absicherungsgeschäften (Cashflow-Hedges) im OCI verbuchen.
Ein negatives OCI aus Pensionslasten etwa könnte auf steigende zukünftige Verbindlichkeiten hindeuten und damit auf einen möglichen zukünftigen Abfluss von Liquidität. Der für Pensionsverpflichtungen jeweils geltende aktuelle marktnahe Rechnungszins ist der Parameter mit dem größten Einfluss auf die Pensionsverpflichtungen in der Bilanz. Als Faustformel gilt: Steigen die Marktrenditen um einen Prozentpunkt, reduziert das die Pensionsverpflichtungen um rund zehn Prozent, und umgekehrt.
5. Größtenteils negative Werte im S&P 500
Im Geschäftsjahr 2024 lag das OCI, die Differenz aus Nettogewinnen und den Gesamtergebnissen, im S&P 500 bei gerundet minus 4,5 Milliarden Dollar. Nur 172 Unternehmen der insgesamt 502 S&P-500-Unternehmen hatten 2024 ein positives OCI. Zum Vergleich: 2022 lag das OCI bei minus 325 Milliarden Dollar. Grund war die schnelle, steile Zinswende (siehe Abbildung 2).
In Summe schlug das akkumulierte OCI (AOCI) per Jahresende 2024 im S&P 500 mit minus 805 Milliarden Dollar (ebenfalls Abbildung 2) zu Buche – minus 27 Milliarden mehr als zum Vorjahresstichtag (die Geschäftsjahre der Unternehmen weichen zum Teil vom Kalenderjahr ab).
Bei 65 Unternehmen finden sich positive akkumulierte Werte (AOCI) in der Bilanz in Höhe von insgesamt 6,3 Milliarden Dollar. Bei 150 Unternehmen liegt der Wert bei mehr als minus einer Milliarde Dollar. Die restlichen Unternehmen liegen dazwischen, oder sie haben kein OCI (wie etwa Old Dominion Freight Line).
Die größte Rolle spielen die Unternehmen aus dem Finanzsektor (Banken, Versicherungen, Broker, Vermögensverwalter). Die 26 Finanzdienstleister aus dem S&P 500 allein bilanzieren ein Minus (AOCI) von insgesamt 183 Milliarden Dollar, oder rund 23 Prozent des gesamten akkumulierten negativen OCI im S&P 500 (Abbildung 3).

Dabei spielen Wertveränderungen von Wertpapieren aus einer speziellen Kategorie eine wesentliche Rolle. Knapp 90 Milliarden Dollar, oder fast die Hälfte des AOCI der Finanzdienstleister im S&P 500, stammen aus Wertveränderungen von Schuldtiteln (in der Regel Anleihen), die in der Bilanz auf der Vermögensseite unter der Kategorie Available-for-Sale (AFS, „zum Verkauf verfügbar“) verbucht und die nicht abgesichert (gehedged) sind.
Insgesamt machten AFS-Anlagen bei den 26 Finanzdienstleistern zuletzt knapp 2,5 Billionen Dollar aus. Sie übersteigen damit deren Eigenkapital von knapp 1,9 Billionen Dollar (Abbildung 4).

In einem Szenario höherer statt niedriger US-Kapitalmarktzinsen, die sich bei ausbleibenden stärkeren Zinssenkungen der US-Notenbank und aufgrund von Bonitätsfragen einstellen könnten, liegt in den AFS-Anlagen ein erhöhtes Risiko für den US-Finanzdienstleistungssektor. So sind in den vergangenen Jahren etwa die Risikoaufschläge auf Kredite im US-Gewerbeimmobiliensektor gestiegen, nun könnten Investoren von mit Zöllen belasteten Unternehmen höhere Zinsen fordern. Im Extremfall drohen den Banken Kreditausfälle.
Eine negative Wertveränderung der AFS-Anlagen von zehn Prozent würde das Eigenkapital der Finanzdienstleister um 13 Prozent reduzieren. Zudem würden – ein Verkauf von Papieren oder Verluste zur Fälligkeit vorausgesetzt – neben dem zuletzt schon aufgelaufenen Minus von 90 Milliarden Dollar im AOCI weitere minus 248 Milliarden Dollar in den Gewinn- und Verlustrechnungen sichtbar und entsprechend die Ergebnisse drücken.
Fazit
Ein Zinsanstieg würde vermutlich in Summe das akkumulierte OCI aller S&P-500-Unternehmen noch tiefer ins Minus drücken. Nur Unternehmen, bei denen Wertveränderungen von Pensionsverpflichtungen das Gros am OCI ausmachen, wären Profiteure: Ihr Eigenkapital würde – wie schon in den vergangenen drei Jahren – entlastet.
Besonders im Finanzsektor sind hohe negative Wertveränderungen im OCI verbucht, die früher oder später auch in der Gewinn- und Verlustrechnung auftreten könnten. Hier würde sich ein Zinsanstieg am deutlichsten negativ niederschlagen.
Je nach Unternehmen finden sich in den OCI und den AOCI relevante Positionen, deren künftige Veränderungen Relevanz für den Buchwert (je Aktie) haben und die die Prognosequalität künftiger Ergebnisse erhöhen können.
Schon das schiere hohe Volumen an im AOCI verbuchten Wertänderungen sollten Anleger nicht ignorieren.
Literatur
Antonakopoulos, Nadine (2010), „Erfolgsquellenanalyse nach IFRS auf Basis des Gesamterfolgs (total comprehensive income)“ in KoR 03/2010, 121-129
Knappstein, Janina, Hüttermann, Kai (2014), „Darstellung und Bedeutung des other comprehensive income“ in KoR 12/2014, 586-593
Glossar
Verschiedene Fachbegriffe aus der Welt der Finanzen finden Sie in unserem Glossar erklärt.
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